Archiv des Autors: Peter Sutter

«Der verwöhnte Westen muss sich warm anziehen»

Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und militärische Vorherrschaft durch Technologie – auf diese Formel lassen sich die chinesischen Ambitionen bringen, glaubt man einem Spezialisten der Fachzeitschrift «Foreign Affairs». So hat technologische Vormachtstellung für das Reich der Mitte weit mehr als eine ökonomische Dimension. Hierfür bedarf es einer mindestens so konsequenten Innenpolitik, soll das ganze Gebäude nicht am Widerstand der Bevölkerung zerbrechen. Mittlerweile soll die ganze Kommunikation auf Social Media kontrollierbar sein, die Sammlung von Kauf-, Bewegungs-, Gesundheits-, Steuer- und anderer Daten durch den Staat ist umfassend und Internetzensur ohnehin Realität. Mit Gesichtserkennung, Mobilitätsdaten sowie künstlicher Intelligenz werden «Cities» erst richtig «smart». Die neuen Technologien erlauben somit die Steuerung nicht nur der individuellen Bewegungen, sondern überhaupt der öffentlichen Meinung. China hat verstanden, dass sich mit den neuen Technologien alle Bereiche – die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik und das Militär – in ihrer Gänze durchdringen lassen. Wer mit dem technologischen Vorsprung nicht nur die Verteidigung nach aussen, sondern ebenso die Kontrolle nach innen und auch den wirtschaftlichen Nutzen im Griff hat, hat den Schlüssel zur Supermacht in der Hand. Der verwöhnte Westen und ganz besonders Europa müssen sich warm anziehen.

(Katja Gentinetta, politische Philosophin, in: NZZ am Sonntag, 10. Februar 2019)

Wenn Katja Gentinetta postuliert, der «verwöhnte Westen» müsse sich «warm anziehen», um sich gegen die aufkommende Supermacht China behaupten zu können, so würde dies ja im Klartext bedeuten, dass auch wir im Westen eine vergleichbare Vorherrschaft der Technologie über Politik und Gesellschaft anstreben müssten, denn dies ist ja das angebliche Erfolgsrezept Chinas. Ein gefährlicher Gedanke, wenn wir an all die Auswüchse des chinesischen Überwachungsstaates denken. Wäre es nicht gescheiter, dem chinesischen «Erfolgsmodell» bewusst etwas radikal anderes entgegenzusetzen, nämlich die Abkehr vom «Weltmachtdenken» und die Vision einer einzigen Welt gleichberechtigter Partner, um in globaler Zusammenarbeit und gegenseitigem Erfahrungsaustausch zwischen allen Regionen und Ländern der Erde über Sinn und Zweck technologischer und gesellschaftlicher Errungenschaften zum Wohle der Menschheit nachzudenken.

Neues Handynetz braucht 15’000 zusätzliche Antennen

Die Frequenzen für den Mobilfunk der 5. Generation (5G) sind diese Woche versteigert worden. Nun wollen sich die Firmen Salt, Sunrise und Swisscom an den Aufbau des Zukunftsnetzes machen. Dafür braucht es beinahe noch einmal so viele Handyantennen, wie bereits in der Schweiz stehen. «Wir gehen davon aus, dass ohne Anpassung der Anlagegrenzwerte rund 15’000 zusätzliche Mobilfunkstandorte gebaut werden müssen», sagt Christian Grasser, der Geschäftsführer des Branchenverbands Asut. Gemäss neuesten Zahlen umfasst das Netz heute bereits 18’823 Antennen.

(NZZ am Sonntag, 10. Februar 2019)

Ist das kein Thema für den Klimaschutz? Was geschieht mit all den Geräten der 4G-Generation, die man nun von einem Tag auf den andern nicht mehr braucht? Verschlingt der Bau 15’000 zusätzlicher Mobilfunkantennen nicht eine Unmenge an Rohstoffen und Energie? Wie steht es mit der Strahlenbelastung der Bevölkerung? Und wie geht das alles weiter, brauchen wir für die 6G-Technologie, die unweigerlich schon in ein paar Jahren Thema sein wird, weitere 15’000 oder gar noch mehr neue Mobilfunkantennen? Wenn man die Fachleute fragt, was denn der Nutzen der neuen 5G-Technologie sei, dann schlucken sie meist leer, müssen einen Moment überlegen und sagen dann: «Es macht alles viel schneller als bisher. Brauchten Sie bisher ein paar Minuten, um einen Film auf Ihr Handy herunterzuladen, so geht das mit 5G in ein paar Sekunden.» Dann überlegen sie nochmals kurz und ergänzen: «Und auch für die selbstfahrenden Autos braucht es die 5G-Technologie.» 15’000 neue Antennen. Der technische «Fortschritt» ist zum Selbstläufer geworden. Niemand hat uns gefragt, ob es uns wichtig ist, einen Film in ein paar Sekunden herunterzuladen. Niemand hat uns gefragt, ob wir darauf verzichten wollen, auch in Zukunft unsere Autos selber zu steuern. Wie gebannt blicken wir auf die kommenden Nationalrats- und Ständeratswahlen und rühmen uns der schweizerischen Demokratie. In Tat und Wahrheit aber ist unsere Demokratie durch die wachsende Macht globaler Konzerne, des Kapitals, der Digitalisierung und ganz allgemein des technischen «Fortschritts« schon lange ausgehebelt worden.

Die internationale Finanzwelt entdeckt die deutschen Pflegeheime

Wenn ihre Frühschicht mal besonders schlimm ist, wenn dauernd das Handy klingelt, während sie mit einem Demenzpatienten redet, wenn sie eine alte Frau aus dem Bett in den Rollstuhl wuchtet, währenddessen eine andere nach ihr wegen Schmerztabletten klingelt, und ein alter Mann sie zum dritten Mal nach seiner Frau fragt, obwohl sie ihn bereits zweimal zu ihr ins Zimmer gebracht hat, während einer solchen Schicht also, wo sie bereits nach zweieinhalb Stunden schweißgebadet über die Flure rennt, möchte sich Verena Kaiser am liebsten nur noch hinsetzen und heulen.

Aber sie heult nicht. Sie will es auch nicht. «Ich muss den Leuten doch eine positive Stimmung vermitteln. Ich muss doch sagen, dass wir das schaffen», sagt sie. Aber sie schafft es nicht. Eigentlich. Seit längerem denkt sie darüber nach, ob sie den Beruf hinschmeißt. Verena Kaiser ist Mitte 50, arbeitet seit über 30 Jahren in einem Pflegeheim. Sie mag ihren Job. Sie mag es, dass sie die Leute anstrahlen, wenn sie mal länger weg war und sagen: «Da bist Du ja wieder. Du kannst mir den Rücken einschmieren.» Am Morgen kommt sie eine halbe Stunde früher, bevor die Frühschicht um 6.30 Uhr beginnt. Das ist ihre Freizeit, aber sie arbeitet dann bereits. Unbezahlt. Sie macht es, weil sie sonst keine Zeit hat, einen Bewohner des Pflegegrads 5 zu betreuen. Die schwersten Fälle. Dann kann jemand nicht mehr stehen oder gehen, liegt meist im Bett, oft desorientiert, kaum ansprechbar. Verena Kaiser reinigt die Haut, massiert die Gelenke, dreht den Körper, damit keine Druckgeschwüre (Dekubitus) entstehen. Das Ganze ist eine Prophylaxe gegen Altersleiden, wie Versteifungen, Lungenentzündungen oder eben Dekubitus, aber diese Vorsorge braucht Zeit, 40 Minuten, und die hat Verena Kaiser in der Frühschicht nicht. Auf ihrer Station kümmert sie sich zu zweit um 37 Bewohner. Doch manchmal muss ihre Kollegin auf einer anderen Station aushelfen, weil der Personaleinsatz so knapp kalkuliert ist, denn Personalkosten machen 70 bis 80 Prozent der Kosten eines Heimes aus, weshalb viele Anbieter möglichst wenig Leute beschäftigen wollen. Verena Kaiser schmiert dann für 17 Bewohner allein die Brote, räumt Tische ab, bringt Hilfsbedürftige zur Toilette, während stets das Handy schrillt. «Ich laufe wie ein Karnickel über die Flure, das von einem Wolf gejagt wird», sagt sie. An ihren eigenen Ruhestand will sie gar nicht denken. Sie fürchtet sich davor. Mit ihrer 30-Stunden-Woche verdient sie etwa 1900 Euro brutto im Monat, eine Lohnerhöhung gab es seit 2002 nicht. Ihre Rente wird niedrig ausfallen, vermutlich sogar Grundsicherung, wie die Sozialhilfe im Alter heißt. Einen Platz im Vitanas-Heim wird sie sich nicht leisten können, denn da müsste sie etwa 1800 Euro im Monat zuzahlen…

Verena Kaiser arbeitet in einem Ableger der Heim-Kette Vitanas. Sie gehört dem US-Finanzinvestor Oaktree, der sie vor anderthalb Jahren für 500 Millionen Euro übernommen hat. Mit fast 8400 Betten und knapp 6000 Beschäftigten zählt der US-amerikanische Fonds, der über 100 Milliarden Dollar verwaltet, zu den größten Pflegeheim-Anbietern Deutschlands. Oaktree ist nicht der einzige Abgesandte des großen Geldes, der aus der Betreuung alter Menschen Gewinn ziehen will.  Der schwedische Investor EQT sicherte sich in großem Stil Pflegeheime in Bayern und Nordrhein-Westfalen, sein Konkurrent, der schwedische Investor Nordic Capital, kaufte Alloheim, den zweitgrößten Heimanbieter, der französische Pflege-Konzern Korian übernahm Curanum und Casa Reha stieg zur Nummer eins unter den deutschen Pflegekonzernen auf. Und die deutsche Wohnen, einer der größten Vermieter Deutschlands, kaufte 45 Prozent des Hamburger Anbieters Pflege und Wohnen wiederum von Oaktree. Die internationale Finanzwelt entdeckt die deutschen Pflegeheime. Laut einer Studie der Beratungsfirmen Deloitte, dem RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und dem Institute for Health Care Business liegt das Risiko für die Pleite eines Heimes bei zwei Prozent. Bei Kliniken sind es zehn Prozent. Goldene Zeiten für Investoren. Kurz nach der Übernahme von Oaktree tauchten die Berliner Vitanas-Heime in den Medien auf. Von unzufriedenen Bewohnern berichteten die Zeitungen, von liegengebliebenen Fahrstühlen, die nicht repariert wurden, von Mittagessen, die nicht abgeräumt wurden, von verkoteten Zimmern, die nicht gesäubert wurden. Angehörige schrieben Briefe, die Berliner Heimaufsicht wollte prüfen. Das internationale Geld will die letzte Zeit eines Menschen auf Erden offenbar ziemlich traurig gestalten. Fragt man Verena Kaiser, was sich durch den Einstieg von Oaktree geändert hat, sagt sie: «Es ist alles viel schlimmer geworden, die Arbeitsverdichtung, die Hetze, der Zeitdruck.»

(Stern, 7/2019)

Wie immer im Kapitalismus. Unten wird geschuftet bis zum Tod, oben halten sie die Hände auf und das Geld sprudelt ganz von selber vom Himmel. Die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Medaille: Schweiss und Tränen der einen verwandeln sich in das Gold der anderen…

Globalisierung: LInks und Rechts vertauscht

«Man kann nicht für oder gegen die Globalisierung sein. Denn sie ist eine Tatsache», sagt Tiana Angelina Moser, GLP-Nationalrätin, in der Diskussionssendung «Arena» des Schweizer Fernsehens vom 8. Februar 2019 zum Thema «Schweizer Werte».

Das wäre das Gleiche, wie wenn man sagen würde: Man kann nicht für oder gegen den Kapitalismus sein, denn er ist eine Tatsache. «Globalisierung» ist nämlich bloss ein anderes Wort für Kapitalismus. Was sich gegenwärtig weltweit ausbreitet, ist nämlich nicht irgendetwas, sondern nichts anderes als der Kapitalismus mit seiner unerschöpflichen Gier nach Wachstum und Profit. Der schönfärberische Begriff Globalisierung – im Sinne von engerem Handel, Austausch und Kontakten über alle Grenzen hinweg – täuscht darüber hinweg, dass die «Globalisierung» bloss die freundliche, attraktive Maske ist, hinter der sich in Tat und Wahrheit die hässliche Fratze des nach wie vor äusserst brutalen und räuberischen Kapitalismus versteckt. So dass selbst junge, intelligente und aufgeschlossene Menschen wie Tiana Angelina Moser zum Schluss kommen, man könne da gar nicht dafür oder dagegen sei, es sei schlicht und einfach eine Tatsache. Wenn wir aber nicht mehr den Begriff der Globalisierung vorschieben, sondern das Kind beim Namen nennen, es nämlich als das bezeichnen, was es ist, nämlich Kapitalismus, dann kann man sehr wohl dafür oder dagegen sein, die Frage ist nur, ob man es will. Aber gottgegeben ist der Kapitalismus keineswegs, es gab in der Geschichte der Menschheit unzählige andere Epochen und Wirtschaftssysteme, die gekommen und auch wieder gegangen sind. Das Groteske an der aktuellen Situation ist, dass «Linke» und «Grüne» in grosser Zahl die Globalisierung – und damit eben den Kapitalismus – verherrlichen, während die «Rechten» mit ihrer Kritik an der Globalisierung das Potenzial einer wachsenden Zahl an unzufriedenen Bürgern und Bürgerinnen auffangen und sich damit eigentlich jene Wut zunutze machen, die sich gegen das kapitalistische System richten müsste.

Weshalb spricht man immer nur von Frauenquoten?

Seit den amerikanischen Kongresswahlen sind drei Monate vergangen, aber erst jetzt gibt es ein genaueres Bild vom enormen Finanzaufwand hinter diesem politischen Kräftemessen. Wie das Center for Responsive Politics, ein Washingtoner Think-Tank, aufgrund der bei der Föderalen Wahlkommission eingereichten Finanzdeklarationen errechnete, hat der Wahlkampf die Rekordsumme von 5,7 Milliarden Dollar verschlungen. Das sind happige 40 Prozent mehr als bei den Kongresswahlen von 2016. Eingeschlossen in dieser Zahl sind nicht nur die direkten Ausgaben der Kandidaten für Sitze in Senat und Repräsentantenhaus, sondern auch die Kampagnen der Parteien und von Drittgruppen, die seit einer Liberalisierung der Finanzierungsregeln fast unbegrenzt Geld in Wahlkämpfe pumpen können. Aus europäischer Warte immer wieder verblüffend sind die Summen, die einzelne Politiker aufwenden, um ein Amt zu erobern. Das teuerste Rennen im November war jenes um einen der beiden Senatssitze von Florida, das mit der knappen Abwahl des demokratischen Amtsinhabers endete. Die Kandidaten, Parteien und Drittgruppen steckten 209 Millionen in diesen Titanenkampf, ein weiterer Rekord. Bei einem heiss umstrittenen Rennen im 435-köpfigen Repräsentantenhaus werden normalerweise um die zwei Millionen Dollar pro Kandidat aufgewendet, wobei es aber auch da exorbitante Fälle gibt. Ein reicher demokratischer Weinhändler aus Maryland überwältigte seine republikanische Gegnerin, indem er das Zwanzigfache ihres Budgets einsetzte.

(NZZ, 9. Februar 2019)

Und da behaupte noch jemand, die USA seien eine Demokratie. Müsste man da nicht eher von einer Plutokratie sprechen? Weshalb spricht man immer nur von Frauenquoten? Müsste man nicht auch Quoten für Bauarbeiter, Krankenpflegerinnen, Zeitungsverkäufer, Friseusen und Köche einführen – damit ein Parlament tatsächlich ein repräsentatives Abbild der Gesamtbevölkerung wäre? Für die 5,7 Milliarden Dollar Wahlhilfe gäbe es zweifellos genügend andere, sinnvollere Verwendungszwecke… 

Unterschied in der Parteipräferenz zwischen männlichen und weiblichen Grosspendern (>200 Dollar), in Prozentpunkten

1994199519961997199819992000200120022003200420052006200720082009201020112012201320142015201620172018Jahr0246810

 

Das Meeting im Luxushotel und Frau H.

Als wäre der Wirbel um die 200’000 teure Kaderveranstaltung in einem vietnamesischen Luxushotel  nicht genug: Die Manager der Post-Tochter Swiss Post Solutions (SPS) stehen schon fürs nächste Reisli in den Startlöchern: Die knapp 100 Kaderleute treffen sich im 4-Stern-Tagungshotel Seeheim, rund 50 Kilometer südlich von Frankfurt. Motto des Strategieseminars: «One level up» – oder anders gesagt: besser werden. Der erste Tag startet für die Manager um 12 Uhr mit dem «Come Together» und gemeinsamem Lunch. Danach folgen die Begrüssungsrede von SPS-Chef Jörg Vollmer und One-level-up-Veranstaltungen nahezu im Viertelstundentakt. Den ersten Tag lassen die SPS-Manager ab 18.30 Uhr mit einem Networking-Event und Dinner im Schloss Auerbach ausklingen. Und wer noch mag, darf den Abend in der Vinothek der Hotelbar fortsetzen. Mit «One level up» geht es erst um 9 Uhr weiter. Die Kosten für diesen Anlass belaufen sich auf gegen 45’000 Franken. Hinzu kommen die Reisekosten. Das Meeting dient laut der Post vor allem der Vorstellung und Diskussion der Strategie für das Jahr 2019 und darüber hinaus. «One Level Up» sei gewählt worden, um Motivation und ein positives Momentum auszudrücken.

(www.20minuten.ch)

Was wohl Frau H. sagen würde, wenn sie das wüsste? Sie ist eines der zahllosen Opfer der «Umstrukturierungen», welche die Post in den letzten Jahren vorgenommen hat. So auch in der Region Solothurn, wo mehrere Posttouren an eine Transportfirma übergeben wurden, welche den Auftrag an eine Drittfirma weitergab, welche ihrerseits ein Subunternehmen beauftragte, bei dem schliesslich Frau H., die früher eine Poststelle bedient hatte, nun arbeitet. Sie muss bei Firmenkunden in Solothurn Pakete abholen, Postbriefkästen leeren und Briefe und Pakete von Poststellen auf dem Land ins nächste Zentrum transportieren. Für ihre täglich vierstündige Tour wird Frau H. mit 100 Franken entschädigt. Mit diesem Geld muss sie erst mal alles selbst bezahlen: Leasingrate des Fahrzeugs, Versicherung, Motorfahrzeugsteuer, Benzin. So bleiben pro Tag gerade mal noch 55 Franken übrig. Macht pro Stunde knapp 14 Franken brutto…

(www.beobachter.ch)

Dringender denn je: Einheitskrankenkasse

Krankenkassen geben Hunderte Millionen Franken für die Anwerbung von Neukunden aus. Offizielle Zahlen über die Höhe dieser Provisionen an externe Vermittler und Makler gibt es nur für die Grundversicherung. 2017 beliefen sich diese laut Bundesamt für Gesundheit auf 43,3 Millionen Franken – 11,7 Millionen oder 37 Prozent mehr als im Vorjahr. Wie viel Makler und Vermittler in der freiwilligen Zusatzversicherung verdienen, bleibt ein Geheimnis. Schätzungen gehen davon aus, dass die Zusatzversicherer 2017 mehr als 400 Millionen Franken für Provisionen ausgegeben haben. Das entspricht rund einem Viertel des Betriebsaufwands. Der Wildwuchs soll nun ein Ende haben. Die Krankenversicherer und ihre beiden Verbände Santésuisse und Curafutura befürworten eine Deckelung der Provisionen in der Grundversicherung und ein Verbot der lästigen, unerwünschten Telefonanrufe. Diese Eckpunkte sind Teil einer Motion, die der Ständerat einstimmig verabschiedet hat.

(Tages-Anzeiger, 5. Februar 2019)

Auch wenn die Provisionen – zwar nur in der Grundversicherung – gedeckelt und unerwünschte Telefonanrufe zukünftig gebüsst werden, wird sich die Krankenkassenbranche eifrig neue Wege der Kundenwerbung einfallen lassen und weiterhin werden Hunderte Millionen Franken in entsprechende Werbemassnahmen fliessen. Dazu kommen die ebenfalls nicht bescheidenen Gehälter und Honorare des Kaders und der Verwaltungsräte jeder einzelnen Kasse. Und dies, während immer mehr Menschen ihre Krankenkassenprämien gar nicht mehr bezahlen können und sich deshalb – vor allem wegen der unseligen Kopfprämie, die für einen Bankdirektor gleich hoch ist wie für eine alleinerziehende Mutter – verschulden müssen. Was ist in die Schweizer Bevölkerung gefahren, dass sie in der Abstimmung vom 28. September 2014 die Einführung einer Einheitskrankenkasse ablehnte? Wie viele Leerläufe, wie viel Verschwendung und wie viel soziale Ungerechtigkeit braucht es noch, bis uns die Augen aufgehen?

Technischer Fortschritt nur dank dem Kapitalismus?

B. behauptet, ohne Kapitalismus hätte es keinen technischen Fortschritt gegeben. Dem möchte ich widersprechen. Die Inkas Südamerikas bauten schon vor 2000 Jahren Terrassenfelder und Bewässerungsgräben. Das Rad wurde vor 5000 Jahren in Mesopotamien erfunden. Die Mayas Mittelamerikas besassen schon vor tausenden Jahren weit fortgeschrittene Kenntnisse des Universums. Segelschiffe fuhren schon über alle Weltmeere, als Jesus geboren wurde. Dies alles lange, bevor es den Kapitalismus gab. Es liegt in der Natur des Menschen, sich das Leben möglichst angenehm zu machen – dies ist der tatsächliche Motor allen technischen Fortschritts. Die «Leistung» des Kapitalismus besteht einzig und allein darin, dass er den technischen Fortschritt dem Konkurrenzprinzip unterworfen und damit masslos beschleunigt hat. Ob das sinnvoll ist, bleibe – wenn man all die aktuellen Produkte des technischen Fortschritts bis hin zu Mondraketen und Atombomben betrachtet – dahingestellt. Der technische Fortschritt wäre auch ohne Kapitalismus weitergegangen, aber vermutlich viel massvoller, vernünftiger und ohne alle möglichen «Nebenprodukte», die wir heute haben und die sich je länger je mehr als gefährlich, ökologisch verantwortungslos und überflüssig erweisen.

«System change not climate change.»

In 13 Schweizer Städten haben am Samstag Zehntausende für mehr Klimaschutz in Politik und Wirtschaft demonstriert. Die Schülerinnen und Schüler der «Klimastreik-Bewegung» haben am Abend über Twitter die Zahl von insgesamt über 60 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern verbreitet. Auf drei Punkte haben sich die Aktivisten im ganzen Land geeinigt: «Wir fordern den Klimanotstand» stand mit dicken Lettern auf einem grossen weissen Tuch, das Jugendliche den Passanten in Bern entgegenstreckten. «Netto-null-Emissionen bis 2030» lautet die zweite Forderung, die auch zu sehen war. Und zwei junge Frauen hatten aus einem Verpackungskarton für Prosecco ein Schild gebastelt, auf dem die dritte Forderung zu lesen war: «System change not climate change.»

(NZZ, 3. Februar 2019)

 

Fast wäre sie untergegangen, die dritte Forderung, wenn nicht zwei junge Frauen aus einem Verpackungskarton für Prosecco dieses Schild gebastelt hätten. Und doch ist es die wichtigste der drei Forderungen, denn ohne Systemwechsel gibt es auch keinen Klimaschutz. So weiterzuleben wie bisher, als reichstes Land der Welt vom globalen kapitalistischen Macht- und Wirtschaftssystem profitierend, und sich gleichzeitig für einen wirksamen Klimaschutz stark zu machen – dies wäre eine reine Illusion. Schön, haben die zwei jungen Frauen daran erinnert. Auch wenn es bloss zwei sind: Greta Thunberg war am Anfang sogar ganz alleine und jetzt sind es Zehntausende…

Absurditäten der kapitalistischen Klassengesellschaft

Satte 200’000 Franken! So viel hat das zweitägige Kader-Treffen der Post-Tochter Swiss Post Solutions (SPS) in der südvietnamesischen Wirtschaftsmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt gekostet. Mehr als zwei Drittel der über 100 Top-Kader der Post waren auf Einladung von SPS-Chef Jörg Vollmer ins 10’000 Kilometer entfernte Vietnam gereist – auf Firmenkosten. Während Post-Angestellte seit Längerem vergeblich um bessere Löhne kämpfen, verprassten 103 Top-Kader in zwei Tagen 200’000 Franken. Zum Abschluss des zweitägigen Business-Meetings feierten die Top-Manager ein rauschendes Fest im Edel-Club Sohy. Dafür hatte Vollmer eigens eine komplette Etage des dreistöckigen Ausgangstempels auf dem Dach des Centec Tower gemietet. Präziser Kostenpunkt: 18’905 Franken – inklusive Dinner und Rahmenprogramm.

(www.blick.ch, 2. Dezember 2019)

Da müsste nur noch ein Funke von den Gelbwesten aus Frankreich in die Schweiz hinüberspringen. Oder haben wir uns an die Absurditäten der kapitalistischen Klassengesellschaft schon dermassen gewöhnt, dass uns nicht einmal solche Nachrichten aus dem Sessel reissen?