Archiv des Autors: Peter Sutter

Wenn diejenigen, die sich um die Pflege Kranker und Alter kümmern, selber krank werden

In einer Umfrage der Unia bei den Pflegepersonen in der Langzeitpflege gaben 47 Prozent der Befragten an, dass sie nicht bis zur Pensionierung in der Pflege arbeiten wollen. Bei den Fachangestellten Gesundheit (FaGe) lag der entsprechende Anteil sogar bei 52 Prozent. Auch beim diplomierten Pflegefachpersonal ist der Ausstiegswunsch mit 45 Prozent augenfällig. Hauptgrund für den Ausstiegswunsch sind gesundheitliche Probleme. Jede Zweite (49 Prozent) will aufhören, weil der Pflegeberuf ihre Gesundheit schädigt oder ruiniert. Zum einen sind Pflegeberufe per se körperlich und psychisch belastend. Mit der Subjektfinanzierung sei die Pflege zudem ökonomisiert worden.

Die Zerstückelung der einzelnen Leistungen habe die Arbeit intensiviert und stressanfälliger gemacht, erklärten die Unia-Vertreter. 86 Prozent der Befragten fühlen sich laut Umfrage oft müde und ausgebrannt. 72 Prozent gaben an, regelmässig unter körperlichen Beschwerden zu leiden. 70 Prozent erklärten über alle Berufsgruppen hinweg, sie fühlten sich während der Arbeit ständig gestresst. Zu den gesundheitlichen Risiken kommt hinzu, dass sich die Pflegenden unterbezahlt fühlen. 79 Prozent erachten ihren Lohn als den Anforderungen nicht angemessen, diese Klage kommt insbesondere von Assistenzpersonal. Eine Pflegehelferin mit einem Pensum von 72 Prozent verdient gemäss den Unterlagen knapp 2900 Franken brutto. Der durchschnittliche Beschäftigungsgrad in der stationären Langzeitpflege in der Schweiz liegt bei 72 Prozent. Viele Pflegende arbeiten angesichts der schwierigen Arbeitsbedingungen Teilzeit. Fast 90 Prozent der Angestellten in der Langzeitpflege sind Frauen. 87 Prozent waren der Meinung, dass zu wenig Personal angestellt sei. Der gleiche Prozentsatz gab an, nicht genügend Zeit für Bewohner und Patientinnen zu haben. Das Resultat der Überlastung sei eine mangelhafte Qualität der Pflege (92 Prozent).

(www.20minuten.ch)

Dass ausgerechnet jene, die sich um die Gesundheit anderer kümmern, selber dabei krank werden, ist der blanke Hohn. Schuld daran ist einmal mehr das kapitalistische Optimierungsprinzip von Input und Output, wonach zu den geringsten Kosten die grösstmögliche Effizienz zu erzielen ist. Dazu als zweiter kapitalistischer Hammerschlag die relativ geringe Entlöhnung des Pflegepersonals. So kommen zu den Schmerzen im Rücken und in den Beinen die Schmerzen in der Seele: die Demütigung, so hart und aufopfernd zu arbeiten und dennoch so wenig zu verdienen…

Zwei Lösungsvorschläge sind angesagt. Erstens die vollständige Befreiung der öffentlichen Grundversorgung vom Kosten-Nutzen-Wettbewerb. Für eine gewisse Anzahl von Heimbewohnern bzw. Patientinnen braucht es so und so viel Personal. Basta. Dann können die Pflegenden vollumfänglich ihre Arbeitszeit dem Berufsauftrag widmen und müssen nicht stundenlang am Computer sitzen und Formulare ausfüllen. Zweitens die Einführung eines Einheitslohns, in diesem wie in jedem anderen Beruf. Dann könnte man auch noch von einem 50-Prozent-Job anständig leben.

Hier mehr zum Thema Einheitslohn: https://www.petersutter.ch/2018/12/was-ist-ein-gerechter-lohn.html

 

Ein neues Lebensgefühl

Auch in den USA kommt besonders von der jungen Generation Druck auf die Politik. Der Green New Deal – eine Vision, wie die Regierung mit radikalen Schritten die Erderhitzung bekämpfen, gleichzeitig aber auch Millionen gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen könnte – wurde massgeblich von einer Jugendbewegung, dem Sunrise Movement, initiiert. Dabei handelt es sich um eine Basisorganisation, die erst vor eineinhalb Jahren von sechs Collegeabsolventen und -Absolventinnen gegründet wurde und inzwischen über rund hundert Sektionen verfügt. Vor allem in den vergangenen Monaten ist die Bewegung gewachsen. Sie ist somit Teil der internationalen Jugendbewegung für das Klima, die am 15. März weltweit streiken wird – auch in den USA. Dass sich besonders Jugendliche engagieren, erklärt Varshini Prakash, eine der Gründerinnen des Sunrise Movement, mit einem neuen Lebensgefühl: «Wir haben weniger zu verlieren als jede andere Generation – und alles zu gewinnen.»

(Wochenzeitung, 14. Februar 2019)

Was für wunderbare Zeichen einer neuen Zeit…

Wie eine Hydra, bei der immer wieder neue Arme nachwachsen

Die Wohnungsmieten in deutschen Städten sind zwischen 2008 und 2017 massiv angestiegen: in Stuttgart um 48 Prozent, in München um 53 Prozent und in Berlin um 83 Prozent. Im gleichen Zeitraum sind die Reallöhne um zehn Prozent angewachsen.

(Fernsehen SRF1, 10vor10, 13. Februar 2019)

Die auf den ersten Blick gute Nachricht – Reallohnerhöhung von zehn Prozent innerhalb von zahn Jahren – entpuppt sich als Bumerang, wenn man sie in Beziehung setzt zu den Lebenshaltungskosten wie etwa der Wohnungsmiete. Zuckerbrot und Peitsche. Das ist das Wesen des Kapitalismus: Vorne ködert er dich mit süssen Versprechungen, hinten zieht er dir das Mehrfache davon wieder aus der Tasche. In Berlin haben unlängst 20’000 Menschen gegen die steigenden Mietpreise demonstriert. Aber eigentlich müssten sie – und unzählige andere – gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem demonstrieren, hängt doch im Kapitalismus alles mit allem – Löhne, Mieten, Steuern, Abgaben, Lebenshaltungskosten, Krankenkassenprämien, usw. – unauflöslich zusammen wie bei einer Hydra, bei der, würde man den einen Arm abschlagen, sogleich an anderen Orten unzählige andere nachwachsen würden.

Load Controller: Zehn Stunden Arbeit ohne Pause – und das mitten in der Schweiz

Load Controller bestücken Flugzeuge mit Ladung – am Flughafen Zürich bis zu zehn Stunden ohne Pause. Sie sind verantwortlich dafür, dass die Flugzeuge gleichmässig beladen werden und nicht in Schieflage geraten können, was leicht einen Absturz zur Folge haben könnte. Arbeitgeber ist die zur Emirates-Gruppe gehörende Dnata Switzerland. Sie ist am Zürcher Flughafen für die Bodenabfertigung zuständig – neben Swissport und AAS. Dnata hat keinen guten Ruf. «Sie fällt immer wieder negativ auf: Tieflöhne, schlechte Sozialleistungen und zu lange Arbeitszeiten », sagt Stefan Brülisauer von der Gewerkschaft VPOD. Und was sagt das zuständige Arbeitsinspektorat? «Die Pausenregelungen des Arbeitsgesetzes gelten grundsätzlich auch für Arbeitnehmende, die an einem Flughafen tätig sind. Wir haben uns deshalb bei der Firma bereits gemeldet», sagt Arbeitsinspektor Thomas Zollinger. «Selbstverständlich kann die Sicherheit gefährdet sein, wenn die Load Controller übermüdet und unkonzentriert sind», sagt auch der Luftfahrtexperte Hansjörg Egger. «Das müsste das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) dringend kontrollieren.» Dort sieht man das anders: Fehlende Pausen oder Überstunden zum Nulltarif seien in erster Linie ein Thema arbeitsrechtlicher Natur, und das Bazl sei nicht (primär) dafür zuständig. Die Abfertiger würden zwar regelmässig inspiziert, es werde auch darauf geachtet, dass keine Doppelschichten gearbeitet werden. Eine Kontrolle der geleisteten Arbeitszeiten gebe es aber nicht. «Grundsätzlich sind die Airlines und die Piloten dafür verantwortlich, dass die Flugzeuge ordnungsgemäss und sicher geladen werden.»

(www.beobachter.ch)

 

Schöne neue – globalisierte – Welt. Da spielen sich alle Mechanismen des Kapitalismus in seiner Endform gegenseitig in die Hände. Erstens: «Dnata Switzerland», der Name erweckt den Anschein eines Schweizer Unternehmes, ist in Tat und Wahrheit ein Ableger der «Emirates»; Menschen, die in der Schweiz arbeiten, sind also Arbeitsbedingungen unterworfen, die irgendwo in einem arabischen Golfstaat definiert werden. Zweitens: Es gibt nicht nur einen einzigen Beladungsdienst, sondern gleich drei, neben «Dnata Switzerland» noch Swissport und ASA. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diese drei Firmen in einem permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf um Kosten und Effizienz stehen, ein Konkurrenzkampf, der wie immer auf dem Buckel der Arbeitenden ausgetragen wird. Drittens: Das zuständige Bundesamt für Zivilluftfahrt erklärt sich ausserstande, zu diesen Missständen Stellung zu nehmen und jeder schiebt die Verantwortung auf den anderen ab. 

In Windeln zur Arbeit

In den Schlachtbetrieben in den USA arbeiten oft Immigranten, die kaum Englisch sprechen und einfach nur glücklich sind, einen Job zu haben. Eine sehr leicht ausbeutbare Gruppe. Einige Betriebe verbieten den Schlachtarbeitern, während der Schichten die Toiletten zu benutzen. Die Arbeiter sind also gezwungen, in Windeln zum Dienst zu kommen. 

(Elizabeth Anderson, www.zeit.de)

Wie heisst es so schön in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: «Jeder hat das Recht darauf, nach Glück zu streben.»

Immer mehr Stress am Arbeitsplatz

Jeder vierte Erwerbstätige hat zu viel Stress am Arbeitsplatz. Laut dem Stress-Monitoring 2018 der Gesundheitsförderung Schweiz werden 27 Prozent der Arbeitnehmer über ihre Ressourcen hinaus belastet, 30 Prozent fühlen sich emotional erschöpft. Wer sich zu lange im Teufelskreis aus Überarbeitung und Überforderung bewegt, landet in einem emotionalen, geistigen und körperlichen Erschöpfungszustand. Studien zeigen zudem auf, dass der von Erwerbstätigen empfundene Stress stets grösser werde. Ursachen seien der Wandel in der Arbeitswelt sowie die veränderten Produktionsmethoden.

(Tages-Anzeiger, 14. Februar 2019)

Sind die «bösen» Arbeitgeber daran Schuld? Diese Erklärung wäre zu einfach. Es ist vielmehr das dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zugrunde liegende Konkurrenzprinzip, dem die Firma, ob sie will oder nicht, unterworfen ist. Dieses Konkurrenzprinzip zwingt jeden dazu, schneller und besser zu sein als die Konkurrenz, ein Teufelskreis, der an Härte und Rücksichtslosigkeit naturgemäss laufend zunimmt, da in diesem Spiel jeder zugleich Jäger und Gejagter ist. So wie bei den Skirennfahrern und Skirennfahrerinnen, die sich gegenseitig zu immer höheren Leistungen anstacheln, bis ihre Körper, wie Lindsey Vonn sagte, «gebrochen» sind. Eine Lösung besteht nicht in Burn-out-Präventionsmassnahmen der einzelnen Firma. Eine Lösung besteht nur in einem neuen, nichtkapitalistischen Wirtschaftssystem, das nicht mehr auf dem zerstörerischen Gegeneinander beruht, sondern auf dem Miteinander, auf Fürsorge und Gemeinwohl.

Der heutige Kapitalismus: Raffiniert, cool und verführerisch

«Ich war als «digitale Nomadin» während vier Jahren für zwölf Betriebe tätig – mal als Freie, mal als Angestellte. Es begann im Alter von 23 Jahren, nach einem Studium in Philosophie, Psychologie und Design. In den Stellenausschreibungen war von einer «Content Managerin» oder «Redakteurin» die Rede – gesucht wurde immer irgendeine «Managerin». Aber in Realität musste ich in Excel-Tabellen Stichworte auflisten, um einen Google-Roboter zu füttern. Oder für irgendeine Marketingabteilung die immer gleichen Formulierungen übersetzen. Faktisch waren es Bullshit-Jobs, wie der US-amerikanische Soziologe David Graeber sagt: Arbeiten, die keinen Sinn haben, sondern lediglich der kapitalistischen Wirtschaft dienen. Coolness ist das grosse Wort, mit dem für solche Beschäftigungen geworben wird. Diese Coolness aber ist sehr oberflächlich und dient nur dazu, die prekären Arbeitsverhältnisse zu vertuschen. Es wird eine Scheinwelt inszeniert. Im Firmensitz werden Süssigkeiten angeboten, es gibt Pausenräume, in denen man gamen kann. Dabei wird eine Welt der Kindheit imitiert, was sich auch in der Kommunikation mit Emojis ausdrückt: Die Arbeitskräfte beschreiben ihre Gefühle nur noch mit Smileys, nicht mehr mit Worten. Das ist bedenklich und stimmte mich traurig. Die soziale Verlogenheit zeigt sich auch in der Sprache der Branche: Es ist die Sprache des Silicon Valley, die voller Superlative und schöner Bilder ist. Arbeitskräfte werden zu «Helden» stilisiert. Man tut so, als könnte jeder, der sich engagiert, ein Mark Zuckerberg oder ein Jeff Bezos werden. Und die «flexiblen Arbeitszeiten» bedeuten oft nichts anderes als Überstunden. Die Wahrheit ist, dass die Arbeitskräfte in prekären Verhältnissen sitzen bleiben und der Erfolg einer kleinen Elite zugutekommt. Diese Elite ist weiss, männlich und stammt aus wohlhabenden Familien.

Die zwölf Chefs der Start-ups, für die ich gearbeitet habe, waren ohne Ausnahme weisse Männer im Alter zwischen 30 und 45 Jahren und kamen aus Deutschland oder den USA. Man duzt sich, ist locker drauf. Am Anfang sieht es ganz danach aus, als wären Vorgesetzte und Arbeitskollegen Freunde. Doch bald zeigt sich, dass dem nicht so ist. Ein Chef wollte mich für 500 Euro monatlich arbeiten lassen. Ich lehnte ab. Da fragte er mich: «Mathilde, kannst du nicht oder willst du nicht?» Ich habe diese Frage nicht beantwortet und nahm schon meinen Mantel, um zu gehen. Da hielt er mir entgegen: Wenn ich nicht bereit sei, alles zu geben für eine grosse Karriere in dieser Branche, sei es besser, ich würde als Hostess bei einer Messe arbeiten. Als Hostess hätte ich vermutlich tatsächlich besser verdient, aber das war natürlich sehr sexistisch. Eigentlich ist das, was sich in der digitalen Arbeitswelt zeigt, nichts Neues – neu ist nur der Stil. Es ist vielmehr die Geschichte des Kapitalismus, die sich hier wiederholt: Die Kluft zwischen der Elite und den Leuten, die arbeiten, wird immer grösser

(Mathilde Ramadier, digitale Nomadin und Buchautorin, www.srf.ch, 12. Februar 2019)

So wandelt der Kapitalismus im Laufe der Zeit sein Gesicht. War es im 19. Jahrhundert die Kinderarbeit in den Fabriken, ist es heute die Ausbeutung der «digitalen Nomadin» in einer computerisierten, auf «Coolness» getrimmten, schillernden neuen Arbeitswelt. Doch die Grundmechanismen sind, wie Mathilde Ramadier zu Recht feststellt, immer noch genau die gleichen und die Kluft zwischen der «Elite» und den «Leuten, die arbeiten», wird an allen Ecken und Enden immer grösser. Dass der Widerstand gegen die Kapitalismus, der im 19. Jahrhundert mit der Arbeiterbewegung begann, seine Ziele noch längst nicht erreicht hat, dies hat nicht damit zu tun, dass der heutige Kapitalismus weniger zerstörerisch wäre als jener des 19. Jahrhunderts. Es hat nur damit zu tun, dass er viel raffinierter, «cooler» und verführerischer ist als jener des 19. Jahrhunderts.

Der Mensch wird zum Feind des Menschen

«Mein Körper ist gebrochen und nicht mehr zu reparieren», sagte Lindsey Vonn im Hinblick auf ihren Rücktritt als aktive Skirennfahrerin. Sie ist nicht die Einzige, es liessen sich beliebig viele weitere Namen aufzählen. Vreni Schneider, Dominique Gysin, Aksel Svindal. Das gängige Bild des zurückgetretenen Skirennfahrers. Sein Körper ist malträtiert von Tausenden Schlägen auf die Gelenke, geschunden vom Malochen im Kraftraum, zertrümmert von Dutzenden Stürzen. Doch es betrifft nicht nur Athleten im gestandenen Sportleralter, sondern auch ganz junge. Man würde derzeit, so Walter O. Frey, Chefarzt bei Swiss-Ski, Daten sammeln über 13- und 14-jährige Alpinfahrer. Fast die Hälfte der 200 Athleten hat dauernd Schmerzen…

(Tages-Anzeiger, 12. Februar 2019)

Das ist die fatale, auf die äusserste Spitze getriebene Folge des Konkurrenzprinzips: Die Beteiligten werden zu Widersachern ihrer selbst. Wenn sich A. so schnell wie er nur kann die Skipiste hinunterstürzt, muss B., um ihn bezwingen zu können, noch ein bisschen schneller sein, was wiederum A. dazu zwingt, ein noch höheres Risiko einzugehen und noch schneller zu fahren. Der Mensch wird zum Feind des Menschen. Niemals würde Tina Weirather Michaela Shiffrin im täglichen Leben auch nur das Geringste zuleide tun. Doch kaum sind sie auf der Skipiste, tun sie nichts anderes als sich gegenseitig grösst mögliches Leid zuzufügen, denn jedes Leiden bei der einen Skirennfahrerin verstärkt das Leiden bei der anderen und umgekehrt. Wie die russischen und rumänischen Kunstturnerinnen: Je härter und risikoreicher die einen trainieren, umso härter und risikoreicher müssen die anderen trainieren, um bei den nächsten Weltmeisterschaften erfolgreich zu sein. Und weil dabei die Sprünge immer anspruchsvoller werden, die gezeigten Figuren immer halsbrecherischer, dreht sich die Spirale, ohne dass die Kunstturnerinnen dies wirklich wollen, gegenseitig immer weiter in die Höhe. Das gleiche bei den chinesischen und japanischen Fabrikarbeiterinnen: Je länger und härter die einen arbeiten, umso länger und härter müssen die anderen arbeiten und umgekehrt. Oder in der Schule: Je mehr Schüler A. für die Prüfung, die auf den nächsten Tag angesetzt ist, büffelt, umso mehr muss Schüler B. büffeln, um möglichst eine gleich gute oder wenn möglich bessere Note zu erzielen. Weil sich in allen Gebieten der gegenseitige Konkurrenzkampf immer mehr verschärft – überall wird alles immer schneller, perfekter und immer mehr auf die Spitze getrieben -, wird das Konkurrenzprinzip früher oder später an einen Punkt gelangen, wo der Mensch schlicht und einfach nicht mehr kann und erschöpft und mit «gebrochenem Körper» liegenbleibt. Und was kommt darnach? Das Zeitalter der Kooperation, der Fürsorge, der Gemeinschaftlichkeit, des Gemeinwohls? Könnten wir nicht, um noch grösseres Leiden zu verhindern, schon heute damit beginnen? Was soll uns davon abhalten?

Wie wenn das Billigste immer das Beste wäre

59 Züge des Typs FV-Dosto bestellten die SBB 2010 für 1,9 Milliarden Franken beim kanadischen Bahnbauer Bombardier. Doch die Auslieferung der vermeintlichen Prestigezüge verzögert sich seit fünf Jahren. Erst seit Dezember 2018 verkehren die ersten zwölf FV-Dosto im fahrplanmässigen Betrieb, wegen technischer Probleme sind sie aber nur eingeschränkt einsetzbar. Täglich kommt es zu rund drei Störungen, eine davon ist ein Zugsausfall. Am meisten Probleme machen die Türen und die Leittechnik, zudem tritt extremes Schütteln auf, besonders bei niedriger Geschwindigkeit und der Fahrt über Weichen. Im Moment fahren in jedem Zug ein zusätzlicher Lokführer, zusätzliches Zugpersonal und ein Techniker von Bombardier mit. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Streitigkeiten zwischen SBB und Bombardier, wer für welche Kosten aufzukommen hat, sind schon in vollem Gange.

(Tages-Anzeiger, 12. Februar 2019)

Die absurden Folgen des kapitalistischen Konkurrenzprinzips. Die SBB sind gehalten, den Auftrag an jenen Anbieter zu vergeben, der zum geringsten Preis das beste, komfortabelste und technisch ausgefeilteste Angebot macht. Ein Widerspruch in sich, müsste sich doch eigentlich durch die vielen in Aussicht gestellten Extraleistungen der Preis eher erhöhen. Aber so wie der Käufer – die SBB – gezwungen ist, den Auftrag an den kostengünstigsten Anbieter zu vergeben, so ist der Anbieter – hier die Firma Bombardier – gezwungen, zu einem möglichst tiefen Preis eine möglichst hohe Leistung zu versprechen, da er ja auf keinen Fall den Auftrag an die Konkurrenz verlieren will. Die hohe Leistung, der tiefe Preis und die Terminzusicherung werden unter dem Konkurrenzdruck in Aussicht gestellt, obwohl eigentlich allen, sowohl dem Anbieter wie dem Käufer, klar sein müsste, dass sie realistischerweise gar nicht erfüllt werden können. Beide, Anbieter wie Käufer, sitzen im gleichen Gefängnis des «freien Marktes», der sie zu sinnlosen, kopflosen, unrealistischen und letztlich viel aufwendigeren, ärgerlichen und kostspieligeren Massnahmen zwingt, aus dem zuletzt schliesslich alle als Verlierer hervorgehen: die SBB, weil sie die bestellten Züge nicht rechtzeitig bekommt und sich mit technischen Unzulänglichkeiten aller Art herumschlagen muss, die Bahnreisenden, die immer wieder mit Unannehmlichkeiten und Ausfällen der neuen Züge konfrontiert sind, und schliesslich auch der Hersteller der Züge, der unter gewaltigem öffentlichem Druck steht und für die schlecht oder zu spät erbrachten Leistungen finanziell aufkommen muss. Bei alledem war die Rede noch nicht einmal davon, weshalb es denn unbedingt eine kanadische Firma sein muss, welche diesen grössten je getätigten Auftrag der SBB zugesprochen bekommen hat. Wie wenn es in der Schweiz keine Firmen und keine Fachleute gäbe, die einen qualitativ und technisch ausgefeilten Zug bauen könnten…

Eine weltweite Abstimmung über den Kapitalismus

Forscher haben in einer neuen Studie vor den dramatischen Folgen des Insektensterbens gewarnt. 40 Prozent aller Insektenarten weltweit könnten innerhalb der nächsten Jahrzehnte aussterben, schreiben Wissenschafter in einer Studie, die im April in der Fachzeitschrift «Biological Conservation» publiziert wird. Derzeit nimmt die Gesamtmasse aller Insekten jährlich um etwa 2,5 Prozent ab. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, könnten innerhalb eines Jahrhunderts weitgehend alle Insekten verschwunden sein, sagen die Wissenschafter um den Umweltbiologen Francisco Sánchez-Bayo von der Universität Sydney warnend. «Die Auswirkungen, die diese Entwicklung auf das Ökosystem des Planeten haben wird, sind katastrophal, um es gelinde auszudrücken», zitiert der «Guardian» aus der Studie. Insekten dienen vielen Tieren als Nahrung, etwa Amphibien, Vögeln und Fischen. Sollten Insekten sterben, verlieren also auch diese Tiere ihre Lebensgrundlage. Die meisten Pflanzen sind zudem auf die Bestäubung durch Insekten wie etwa Bienen, Wespen und Hummeln angewiesen. Die Wissenschafter machen für den Rückgang der Insekten vor allem die Intensivlandwirtschaft sowie die Urbanisierung verantwortlich, durch die die Insekten ihren natürlichen Lebensraum verlieren. Weitere Faktoren sind laut Angaben der Forscher unter anderem der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden.

(www.nzz.ch, 11. Februar 2019)

 

Intensivlandwirtschaft, Urbanisierung, Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden: Alles Folgen des Kapitalismus und seiner unersättlichen Profitgier. Die Basis, auf der alles aufbaut und ohne die es kein Leben gibt, die Erde, wird immer zerbrechlicher. Wie hoch können wir die kapitalistischen Türme der masslosen Gewinnsucht noch in den Himmel bauen, bis alles zusammenbricht? Man sollte eine weltweite Abstimmung durchführen zur Frage, ob das kapitalistische Wirtschaftssystem weitergeführt werden sollte oder nicht. Aber an dieser Abstimmung müssten alle teilnehmen können, auch die Insekten, die Vögel und die Blumen. Wetten, dass das Ergebnis leicht bei 99 Prozent Neinstimmen liegen würde…