Archiv des Autors: Peter Sutter

Wenn es den Hunden und Katzen besser geht als den Menschen

Nun, da Frauchen und Herrchen ihre eigene Kalorienzufuhr, die sportliche Betätigung oder den Schlafrhythmus bereits übers Smartphone überwachen, ist nun der vierbeinige Freund an der Reihe. Hund und Katze werden mit Wearables ausgestattet, also mit Geräten und Trackern, die man am Halsband befestigen kann, um die Aktivität via Smartphone zu überwachen. Damit können Besitzer beispielsweise über eine App Standort und Aktivität des Tieres überwachen, also wie viel es sich bewegt und schläft… Auch Vodafone verkauft einen Haustier-Tracker namens V-Pet. Damit können Herrchen und Frauchen eine sichere Zone um ihr Haus herum definieren. Verlässt das Haustier diese Zone, werden sie über Smartphone informiert. Der V-Pet-Tracker lässt den Besitzer auch wissen, wie viel der Hund oder die Katze gerannt ist, gespielt oder geschlafen hat. Er zeigt an, wie viele Kalorien das Tier verbrannt hat… Weitere Firmen haben digitale Dog-Sitter auf dem Markt gebracht. Diese funktionieren über Kameras, die in der Wohnung oder im Haus aufgestellt werden und über die Besitzer ihre Tiere beobachten können, wenn sie ausser Haus sind… Die Firma Furbo verkauft eine Hundekamera, über die Nutzer via Smartphone hören und sehen können, was das Haustier tut. Auch können sie zu ihm sprechen. Bellt der Hund beispielsweise, kann sich der Halter über die Kamera zu Hause umsehen, was los ist. Die Furbo-Kamera kommt mit einem Leckerli-Fach, das mit bis zu 100 Leckerli gefüllt werden kann. Auf Kommando via Smartphone werden diese dem Hund zugeworfen… Das deutsche Start-up Relaxopet setzt indessen auf die psychische Gesundheit der Haustiere. Es verkauft ein Gadget, das Haustieren in Stresssituationen ermöglichen soll, sich zu entspannen. Das Gerät sendet Klangwellen für Hunde und Katzen aus, die das Unterbewusstsein der Tiere stimulieren sollen… Das Vordringen mit Gadgets in der Haustier-Industrie hat einen guten Grund: Der Smartphone-Markt ist langsam gesättigt. Hersteller und Mobilfunkkonzerne müssen neue Wege einschlagen, um weiter zu wachsen… Marktforscher schätzen, dass der Haustier-Wearables-Markt bis im Jahr 2014 auf 8 Milliarden Dollar wachsen soll. 2017 war er laut der Beratungsfirma Global Market Insights noch 1,85 Milliarden Dollar gross.

(Tages-Anzeiger, 28. Februar 2019)

Der Wachstumszwang, dem die kapitalistische Wirtschaft unterworfen ist, treibt immer absurdere Blüten. Was ist wohl als Nächstes dran, wenn der Markt für die Überwachung der Haustiere ebenfalls gesättigt ist? Werden dann die Blumen im Garten digital vernetzt, um ihr Wachstum, ihre Feuchtigkeit und die Zufuhr an Nährstoffen zu messen und zu optimieren? Das Verrückte daran ist, dass alle diese ökonomischen, finanziellen und technologischen Anstrengungen immer nur dorthin fliessen, wo das entsprechende Geld vorhanden ist, um sich alle diese Absurditäten auch tatsächlich leisten zu können. Während es andernorts am Elementarsten und Grundlegendsten fehlt. Und so leben wir in einer Welt, in der es selbst den Hunden und Katzen einer im Luxus schwelgenden Minderheit der Erdbevölkerung besser geht als jener Milliarde Menschen, die nicht einmal genug zu essen haben, oft nicht einmal ein Dach über dem Kampf haben und meist auch auf eine medizinische Grundversorgung verzichten müssen.

«Make America Great Again»

Der amerikanische Traum funktioniert ganz einfach. Wer sich genug anstrengt und Mühe gibt, wird erfolgreich sein und dem gelingt der Aufstieg. Vom Tellerwäscher zum Millionär  – eine Hoffnung, die seit Jahrzehnten in den USA alle eint und die großen Ungleichheiten in dem Land erträglicher macht. Ein Kitt, der die Gesellschaft zusammen hält. Aber was ist, wenn der amerikanische Traum inzwischen ein riesiger Betrug ist und all die Versprechen, die sich dahinter verbergen, totaler Unsinn sind? Fakt ist: Die Chancen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wirklich den Aufstieg zu schaffen, sind so gering wie nie zuvor. Stephanie Land hat darüber ein Buch geschrieben, «Maid», so der Titel. Das heißt Putzfrau. Untertitel: Hard work, low pay and a mother’s will to survive – Harte Arbeit, niedrige Bezahlung und der Wille einer Mutter zu überleben. Es ist ein ungeschönter Einblick in das Dasein der sogenannten «Working poor» in den USA. Also der Menschen, die mehrere Jobs haben und trotzdem kaum über die Runden kommen. Es hilft auch dabei zu verstehen, warum in den USA so viele Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben. Das amerikanische Sozialsystem ist eines der gnadenlosesten der Welt. Wer dort abstürzt, fällt sehr schnell sehr tief. Ein Fangnetz,  wie zum Beispiel in Deutschland, gibt es nicht. Krankenversicherung und Wohnung stehen in den USA schnell auf dem Spiel. Alles ist kündbar, jederzeit und ohne lange Fristen. Im schlimmsten Fall geht es ums pure Überleben. In «Maid» erzählt Stephanie Land ihre persönliche Geschichte. Mit 28 Jahren wird sie ungewollt schwanger. Der Vater des Kindes ist ein Koch aus Port Townsend im Bundesstaat Washington. Es ist eine von verbalem Missbrauch geprägte Beziehung. Sie bleibt aber trotzdem bei ihm, weil sie weiß, wenn sie ihn verlässt, wird sie obdachlos werden. Sie hält so lange aus, bis er mit seiner Faust knapp neben ihrem Kopf ein Loch in eine Tür schlägt. Ihre Tochter Mia ist da sieben Monate alt. Beide ziehen danach zu Stephanie Lands Vater. Als auch der gewalttätig wird, endet sie mit ihrem Kind in einem Obdachlosenheim. Weil die Logik des amerikanischen Staates ist, wer arm ist, ist auch ein Junkie, muss sie sich regelmäßig Drogentests unterziehen. Eine Demütigung für die junge Frau, die gerade noch Pläne für ein Studium machte und davon träumte, Autorin zu werden.

Um irgendwie über die Runden zu kommen, arbeitet Land als Putzfrau. Für neun Dollar die Stunde, ohne Bezahlung im Krankheitsfall, ohne Rentenversicherung, ohne Urlaub und ohne Gehaltssteigerungen. Das Auto und das Benzin für die langen Fahrten zu ihren Einsatzorten muss sie selbst bezahlen. Meist geht dafür schon ein Stundenlohn drauf. Land ist nun Mitglied der armen, weißen Arbeiterschicht in den USA. Das ist genau die Schicht, aus der ein großer Teil der Trump-Wähler kommt. Die sich betrogen fühlen, weil sie sich buchstäblich einen Buckel arbeiten müssen und trotzdem nicht von der Stelle kommen. Es sind düstere Einblicke in ein Leben an der Existenzgrenze, die zeigen, welche zerstörerische Wucht Armut hat. Lands Buch sind ihre Memoiren, darin findet sich keine soziologische Aufarbeitung. Sie schreibt nur über sich, erzählt aber damit das Schicksal vieler. Wie sie die kranke Tochter immer wieder im Kindergarten abgeben muss, weil sie es sich nicht leisten kann, eine Arbeitsstunde zu verpassen. Wie sie über alle Schmerzen hinweg Arbeitsstunde an Arbeitsstunde reiht, nur um Miete und die nötigsten Lebensmittel bezahlen zu können. Der Preis, den sie bezahlt, ist hoch: Mit einer vorgeschädigten Wirbelsäule leidet sie unter extremen Rückenschmerzen, ein Nerv in ihrem Arm ist ebenfalls versehrt. Bald kann sie nur noch mit links zugreifen. Dazu kommt die mentale Belastung, ständig darum zu fürchten, dass sie die Wohnung verlieren könnte. Oder wie sie trotz ihrer harten Arbeit all ihre Rechnungen bezahlen kann. Krank zu sein kann sie sich nicht leisten. Wenn sie Schmerzen hat, versucht sie die mit verschreibungsfreien Medikamenten zu übertönen. Egal wie viel sie schuftet, sie kommt nicht von der Stelle. Es ist nicht Faulheit, die sie arm hält, es ist das perverse System der Niedriglöhne.

Weil sie nicht ausgehen kann, sich nicht mal einen Kaffee bei Starbucks leisten kann, kommen zu der Armut auch Isolation und Einsamkeit. Manchmal sitzt sie weinend in der Ecke ihres Bades und sagt zu sich selbst: «Ich liebe dich.» Es gibt niemanden in ihrem Leben, der ihr das sonst sagen würde. Es gibt niemanden, an den sie sich mit ihren Sorgen und Ängsten wenden kann… 40 Millionen Amerikaner leben heute in Armut, etwa 18 Millionen sogar in extremer Armut. Sie verdienen weniger als 6000 Dollar im Jahr. Land muss in einem schlecht isolierten Apartment leben, mit Schimmel an den Wänden, der ihre Tochter krank macht. Mehr kann sie sich nicht leisten. Sie fürchtet, weil sie so viel arbeiten muss, keine gute Mutter sein zu können. Aus sieben sogenannten «Government assistance founds», also Programmen der Regierung, bezieht sie phasenweise Geld. Ohne könnte sie keine Lebensmittel kaufen. Und das, obwohl sie fast rund um die Uhr arbeitet. Und sie muss jederzeit fürchten, dass ihr Mittel gestrichen werden. Es ist ein Leben in Abhängigkeit, das durch den kleinsten Fehler endgültig zusammen brechen könnte. Für jeden Dollar, den sie von Behörden und Ämtern bekommt, muss sie lange Anträge ausfüllen. Es ist eine ewige Demütigung. Auch wegen der Vorurteile, mit denen sie konfrontiert ist. Stephanie Land schreibt: «Ich habe mich nicht getraut, irgendwas Schönes zu kaufen, weil ich immer das Urteil der Leute fürchtete.» Eine ihrer wenigen Freundinnen sagt zu ihr: «Streng dich einfach mehr an!» Sie blockt sie danach auf Facebook. Ein Arzt meint, als die Tochter mal wieder krank ist: «Sie müssen eine bessere Mutter sein.» Land bricht danach weinend auf den Boden des Badezimmers zusammen. Bei «Maid» klappt es nicht mit dem Happy End und dem American Dream. Der ist wohl längst tot. Stephanie Land überlebt, irgendwie. Aber von der Putzfrau zur Millionärin wird sie nicht.

(www.stern.de)

Wie schon wieder sagte es US-Präsident Donald Trump: «Make America Great Again.»….

 

Das Gespenst von Alibaba

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst von Alibaba. Ende des vergangenen Jahres kündigte der chinesische Onlineriese an, am belgischen Flughafen Lüttich auf einer Fläche von 220’000 Quadratmetern ein gigantisches Logistikzentrum einzurichten. Eine Investitionssumme von umgerechnet 85 Millionen Franken hat Alibaba allein für den ersten Schritt vorgesehen. Dann folgte Anfang Januar die Übernahme des Berliner Start-ups Data Artisans für etwa 100 Millionen Franken. Und auch das Gerücht, Alibaba könnte den deutschen Onlinehändler Zalando übernehmen, hält sich hartnäckig… Vor allem als Logistikdienstleiter will Alibaba zum Weltmarktführer aufsteigen. Seit rund zwei Jahren ist Alibaba bereits Mehrheitseigner von Cainiao, einem Zusammenschluss mehrerer grosser Logistikunternehmen in China. Mit Cainiao verfolgt Alibaba das Ziel, Bestellungen aus der Volksrepublik binnen 24 Stunden weltweit zu ihren Zielen zu bringen. Doch auch das ist nur ein Zwischenschritt. Der Alibaba-Gründer Jack Ma spricht von «electronic World Trade Platform». Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Ziel, eine Plattform zu schaffen, die Hersteller weltweit direkt mit den Endkunden zusammenbringt. Von allen Punkten der Welt sollen Pakete spätestens innerhalb von drei Tagen geliefert werden können… Das Logistikzentrum in Lüttich ist nur ein Drehkreuz von mehreren. Vergleichbare Stützpunkte hat Alibaba ausser seinem Unternehmenssitz im ostchinesichen Hangzhou auch in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur sowie in Ruanda errichten lassen. Ein weiteres Versandzentrum soll in Bulgarien entstehen. Mehr als 13 Milliarden Euro will Alibaba in den kommenden fünf Jahren für sein weltumspannendes Netz investieren. Oder wie es der Retail- und China-Experte Olaf Rotax bezeichnet: «ein digitales Pendant zur Welthandelsorganisation».

(Tages-Anzeiger, 26. Februar 2019)

Am einen Ort spricht man vom Klimawandel. Am anderen von einer Milliarde Menschen, die nicht genug zu essen haben. Am dritten Ort von einer immer gigantischere Ausmasse annehmenden atomaren Aufrüstung. Und am vierten Ort spricht man davon, dass Pakete von jedem Punkt der Erde an jeden anderen innerhalb von höchstens drei Tagen geliefert werden sollten. Eine zerrissene Welt. Eine verrückte Welt. Bräuchte es nicht dringendst so etwas wie eine «Weltregierung», die Wirtschaftliches, Politisches, Ökologisches und Gesellschaftliches in einen sinnvollen, menschenwürdigen und umweltbewussten Einklang bringen würde?

«Alles hängt mit allem zusammen»

Keine Region der Erde trifft der Klimawandel so schnell und so stark wie die Arktis. Das Meereseis reflektiert das Sonnenlicht und wirft es zurück in die Atmosphäre. Schmilzt das Eis, wird mehr Sonnenlicht vom Meer absorbiert, das Wasser erwärmt sich schneller, was wiederum dazu führt, dass noch mehr Eis noch schneller schmilzt. Die Temperaturen steigen in der Arktis doppelt bis dreifach so schnell wie im Rest der Welt… Eine der letzten unberührten Regionen der Welt wird von Tag zu Tag weniger unberührbar. Neue Abenteuer locken. Plötzlich tauchen zwischen den kleiner werdenden Eisschollen Familien auf Segelbooten auf. Surfer kommen zum Arktissurfen. Auch die Fische ziehen nach Norden. Und mit ihnen die Fischer. Die Lachszüchter. Die Kreuzfahrer. Die Kupferminen. Die Gasfirmen. Die Öltanker. «Wir haben jetzt Garnelenfischer nördlich des 83. Breitengrades. Und im Sommer Kreuzfahrtreisen mit 7000 Passagieren in Spitzbergen», sagt Birger Ingebrigtsen, Chief of Operations bei der norwegischen Küstenwache. «Zwischen all dem schmelzenden Eis ist eine Menge Geld zu verdienen», sagt der Moderator auf der diesjährigen «Arctic Frontiers»-Konferenz in Tromsø… Zudem werden 22 Prozent aller unentdeckten Öl- und Gasreserven der Welt in der Arktis vermutet. Das Rennen darauf hat begonnen, Russland sprintet vorneweg… «Hier geschieht so vieles, von dem wir noch nicht die Konsequenzen absehen können. Aber alles hängt mit allem zusammen«, sagt der Forscher Tore Haug. Und auf der Konferenz in Tromsø rief Norwegens Aussenministerin Ine Eriksen Søreide den Leuten draussen zu: «Wir haben es hier zuerst gesehen. Und bald trifft es euch.»

(Tages-Anzeiger, 26. Februar 2019)

Das Grundproblem besteht darin, dass sich weltweit die – kapitalistische – Wirtschaft zur herrschenden Vormacht aufgeschwungen hat, der alles andere untergeordnet wird. Die Welt funktioniert nicht nach den Regeln der Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der Bescheidenheit, der Demokratie. Sie funktioniert nach den Regeln des grösstmöglichen Profits in der kürzestmöglichen Zeit. Und das weltumspannend, global – während das Politische immer noch weitgehend an die Grenzen des Nationalstaats gebunden ist. So lange die Wirtschaft nicht «entmachtet» und der Politik untergeordnet wird, nützen alle noch so gut gemeinten punktuellen Massnahmen gegen die Klimaerwärmung viel zu wenig. Eigentlich müsste man die heutigen Verhältnisse auf den Kopf stellen: Das Politische müsste sich global vernetzen, die Wirtschaft wäre auf die Grenzen des Nationalstaats zurückzubinden. Denn, wie Tore Haug es sagte: Alles hängt mit allem zusammen…

Eine Autobahn in den Abgrund

«Vor etwa 200 Jahren haben wir in unseren Breitengraden entschieden, dass die Art und Weise, wie wir glücklich werden wollen, durch materiellen Besitz erfolgen solle. Seither sind wir auf diesem Weg, den man auch Kapitalismus nennt. Irgendwann haben wir dann das Auto erfunden, später die Autobahn und seither bewegen wir uns mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf das immer noch gleiche Ziel zu. Dann, vor etwa 40 Jahren, gab es zum ersten Mal Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die darauf hinwiesen, dass am Ende dieses Weges nicht das absolute Glück liege, sondern ein riesiger Abgrund, der komplette Untergang der menschlichen Zivilisation und fast aller Lebewesen. Es gab immer wieder einzelne Menschen am Rande der Autobahn, die warnend hineinriefen, aber man hörte nicht auf sie, denn die blinkenden, riesigen Schilder, die über uns hängen, sind soviel schneller und leichter sichtbar. Und was wir Klimastreikenden momentan versuchen, ist, dass wir sagen, wir sind auf den Seiten dieser Autobahn und schreien jetzt einfach mal drauf los, bis es endlich eine Vollbremsung gibt.»

(Jan Kessler, 23, Student und Klimastreikaktivist, in der Talksendung «Schawinski» des Schweizer Fernsehens SRF1, am 25. Februar 2019)

Was für eine Botschaft, an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Wenn nun Erwachsene hingehen und nichts Gescheiteres wissen als der klimastreikenden Jugend vorzuwerfen, sie stelle bloss unrealistische Forderungen, ohne selber mit gutem Beispiel voranzugehen, dann muss doch in aller Deutlichkeit festgehalten werden: Wer ist denn für die Welt, so wie sie heute ist, verantwortlich, sind das die Jugendlichen oder nicht viel eher die Erwachsenen? Wer hat die Handys erfunden und hergestellt, die Jugendlichen oder die Erwachsenen? Wer hat begonnen, mit dem Flugzeug an alle Ecken und Enden der Welt zu reisen, die Jugendlichen oder die Erwachsenen? Wer hat die Autos und die Autobahnen erfunden, die Jugendlichen oder die Erwachsenen? Können wir Erwachsene uns einfach so billig aus der Verantwortung stehlen, indem wir von den Jugendlichen erwarten, dass sie mit dem guten Beispiel vorangehen, während wir selber nichts an unserem bisherigen Lebensstil zu verändern versuchen? Müssten nicht vielmehr wir Erwachsene mit dem guten Beispiel vorangehen? Die Jugend hat das gute Recht, an der «Autobahn» zu stehen und einfach mal laut zu schreien, dass es so nicht weitergehen kann. Der Rest, die Erkenntnisse, die Massnahmen, die Lösungen – das alles liegt an uns allen. Denn, wie Friedrich Dürrenmatt sagte: «Was alle angeht, können nur alle lösen.»

Klimaschutz ohne Systemwechsel?

Zwei Tage Diskussion, Gruppenarbeit und Austausch: Über 300 Jugendliche haben sich am Wochenende in Bern getroffen, um über die Zukunft der Bewegung «Klimastreik Schweiz» zu entscheiden. Im Fokus standen zum einen inhaltliche Forderungen. Neben der Ausrufung des Klimanotstands und der Reduktion der Emissionen auf netto null bis 2030 lenken die Klimastreiker künftig die Aufmerksamkeit auch auf die «Klimagerechtigkeit»: «Die Hauptverantwortlichen für den Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt müssen zur Rechenschaft gezogen werden», teilten sie am Sonntagabend mit.

(Tages-Anzeiger, 25. Februar 2019)

War an den allerersten Klimastreiks immer wieder die Forderung nach einem «Systemwechsel» zu vernehmen, scheint dieser Aspekt bei den derzeitigen Diskussionen innerhalb der Klimastreikbewegung offensichtlich keine oder nur noch marginale Rolle zu spielen. Was ist passiert? Glauben die Klimaaktivisten tatsächlich, unser Planet sei zu retten ohne eine radikale Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems? Fehlt es schlicht und einfach an einer greifbaren und glaubwürdigen Alternative zum Kapitalismus? Oder hat das kapitalistische Machtsystem seine potenziellen jugendlichen Widersacher bereits wie ein trockener Schwamm in sich aufgesogen und lahmgelegt? Das ist das Dilemma jeder politischen Bewegung, die Bestehendes verändern und erneuern will: In der täglichen Kleinarbeit drohen die langfristigen Ziele aus dem Blickfeld zu geraten. Wirkungsvoll wird eine Bewegung auf die Länge aber nur dann sein, wenn es ihr gelingt, sich gleichzeitig um die tägliche Kleinarbeit wie auch um die weitergreifenden Visionen zu kümmern. Es bleibt zu hoffen, dass sich die aktuelle Klimaschutzbewegung dieser Herausforderung stellen wird.

Indien: Naturschutz contra Menschenschutz

Als grosse Errungenschaft wurde im Jahre 2006 in Indien die Forest Rights Act gefeiert. Sie gab Millionen von Ureinwohnern die Möglichkeit, ihre Wohngebiete in den Urwäldern amtlich registrieren zu lassen und dann dort zu bleiben. Doch mittlerweile sind nur etwa 40 Prozent der von Ureinwohnern eingebrachten Anträge genehmigt worden. Widerstände gibt es von der Bürokratie, von Unternehmen, die Bodenschätze ausbeuten wollen, von Regierungen einzelner Bundesstaaten, die Land für Strassen und andere Infrastrukturanlagen sichern wollen, und von Umweltorganisationen, welche den Schutz seltener Tiere wie dem Tiger höher gewichten als die traditionellen Lebensweisen von Stammesgesellschaften. Diese Umweltorganisationen bekamen nun vom Obersten Gericht teilweise Recht: In 16 Bundesstaaten müssen die Behörden bis am 24. Juli die Wegweisung von Ureinwohnern und anderen Landlosen durchsetzen. Mehr als eine Million Menschen würden somit ihre Wohngebiete verlieren, klagt die Menschenrechtsorganisation Survival International.

(www.srf.ch)

Wie wenn man Menschenschutz von Naturschutz trennen könnte. Das Beispiel zeigt: Während der Kapitalismus ein weltumspannendes, homogenes System ist, das überall nach den gleichen Regeln funktioniert und überall die gleichen Interessen der Profitvermehrung verfolgt, sind seine Gegner in unzählige Parteien, Organisationen, Grüppchen und Gruppen zersplittert, die, wie das Beispiel der indischen Ureinwohner zeigt, oft sogar untereinander zerstritten sind, sich gegenseitig bekämpfen und um eine möglichst grosse Anhängerschaft wetteifern. Soll der Kapitalismus wirksam bekämpft werden, dann müssten sich weltweit alle antikapitalistischen Kräfte zu einer grossen Sammelbewegung zusammenschliessen im Kampf für eine andere Welt, in der die Interessen von Mensch und Natur nicht mehr auseinanderdividiert werden, sondern alles mit allem in einen grossen, harmonischen Einklang gebracht wird.

Mehrheit der Bevölkerung begrüsst Klimastreiks

Im Auftrag des «Spiegel» hat das Umfrageinstitut Civey 7500 Internetnutzer gefragt, ob sie Schülerstreiks für den Klimaschutz unterstützen. Das Votum war gespalten – doch die Mehrheit (51 Prozent) erklärte, dass sie die Protestaktion unterstützen. 42 Prozent sprachen sich dagegen aus. Schaut man sich die Antworten genauer an, wird deutlich, dass die Haltung zu den Schulstreiks auch vom Alter abhängt. Je jünger die Befragten sind, umso größer ist die Unterstützung. In der Altersgruppe unter 30 liegt die Zustimmung bei 64 Prozent – die Ablehnung bei nur 31 Prozent. Ab einem Alter von 65 Jahren sind die Gruppen von Befürwortern und Gegnern des Schulstreiks praktisch gleich groß.

(www.spiegel.de)

Aufmüpfige Jugendliche, welche die Schule schwänzen und mit Transparenten, Pfeifen, Pauken und Megaphonen auf die Strasse gehen – leicht könnten die Erwachsenen solcherlei als «pubertäres Getue» abtun. Doch weit gefehlt! In Deutschland zumindest wissen die jugendlichen Klimastreikenden eine Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite. Heisst das nicht, dass die Menschen im Innersten vielleicht viel radikaler sind, als wir gemeinhin annehmen? Und dass demzufolge politische Parteien vielleicht nicht zuletzt deshalb bei der Bevölkerung auf viel zu wenig Resonanz stossen, weil sie schlicht und einfach viel zu angepasst und «brav» sind.

Dringend: Stimmrechtalter Null

In der Schweizer Politik vertieft sich der Graben zwischen Jung und Alt. Die Rentner verlieren derzeit kaum eine Abstimmung, während sich die Jungen bei gewissen Fragen nur schwer durchsetzen können. Dies zeigen die Vox- und Voto-Analysen zu den Urnengängen der jetzigen Legislatur. Demnach hat die Gruppe der über 60Jährigen nur einmal den Kürzeren gezogen, beim Nein zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Die Jungen wurden demgegenüber bei jedem fünften Urnengang in die Minderheit versetzt. Sie hätten etwa die letzte AHV-Reform, den fixen Atomausstieg und die Initiative für eine grüne Wirtschaft angenommen. Umgekehrt wehrten sie sich erfolglos gegen Sozialdetektive und neue Überwachungsmittel für den Nachrichtendienst.

(NZZ am Sonntag, 24. Februar 2019)

Niemanden scheint es zu interessieren, ob der 85Jährige, der seinen Stimmausweis ausfüllt, noch in vollem Besitz seiner geistigen Kräfte ist und ob er die Vorlage, über die er abstimmt, wirklich verstanden hat oder ob er bloss von seinem Sohn oder seiner Tochter dazu gedrängt wurde, so oder anders abzustimmen. Wenn aber jemand auf die Idee kommt, das Stimmrechtsalter auf 16, 14 oder gar auf Null herabzusetzen, dann ertönen von allen Seiten kritische Stimmen: Unter 18 Jahren sei doch niemand reif, sich eine glaubwürdige eigene Meinung zu bilden, und viel zu stark wäre das Abstimmungsverhalten eines 14- oder 16Jährigen von seinen Eltern, älteren Geschwistern oder anderen Erwachsenen beeinflusst. Führen wir uns die gegenwärtige Klimastreikbewegung, die ausschliesslich von Jugendlichen initiiert wurde, vor Augen, kommen wir zu einem gänzlich anderen Bild: Sehr wohl sind Kinder und Jugendliche in der Lage, sich mit politischen Fragen ernsthaft auseinanderzusetzen. Vor allem aber sind sie es, die Entscheidungen, welche heute getroffen werden, noch am längsten ausfressen müssen, zu einem Zeitpunkt noch, wenn die Älteren, die heute abstimmen, längst schon gestorben sind. Wenn ich mir die kleine Samira, die jetzt fünfeinhalb Jahre alt ist, vorstelle, dann kann man mit ihr schon ganz vernünftig über gewisse «politische» Themen sprechen, es gibt Abstimmungen, bei denen sie schon eine ganz klare Meinung hätte. Weshalb sollte sie ihre kindliche Stimme nicht abgeben dürfen? Sie müsste ja nicht zu allen Abstimmungen Stellung nehmen, das tun Erwachsene übrigens auch nicht. Freilich setzt das voraus, dass Eltern ihre Kinder nicht einseitig beeinflussen, sondern möglichst objektiv über die Vor- und Nachteile der betreffenden Sachvorlage informieren. Das soll nicht möglich sein? Dann muss man es eben möglich machen, zum Beispiel durch spezifische Elternkurse zum Thema «Demokratie in der Familie und Demokratie in der Gesellschaft». Das Gleiche gilt für die Schule: Es wäre die Kunst der Lehrkräfte, die Kinder in einfachen Worten über den Inhalt einer Abstimmungsvorlage aufzuklären, ohne ihnen dabei die eigene Meinung aufzudrängen. Eine anspruchsvolle Aufgabe, aber unerlässliche Voraussetzung einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft, welche keine Diskriminierungen kennt, weder nach Hautfarbe, nach sozialem Status, nach Religion, noch nach Alter.

Selbstoptimierung als kapitalistischer Volkssport

Ob bei der Arbeit, in der Schule und Familie, in der Therapie oder beim Stylisten, in der Kneipe oder im Club, im Fitnessstudio oder im Doppelbett: In allen Sphären des Lebens setzt sich die Leistungssteigerung durch. Überall wird optimiert, verglichen und bewertet, um noch besser zu funktionieren, mit dem Ziel, aus seinem persönlichen Dasein das Maximum herauszuholen. Nicht nur die beste Version seiner selbst sein, sondern die immer perfektere, lautet die Maxime… Programme auf dem Laptop, Apps auf dem Smartphone, die Kalorien oder Schritte zählen, Schlafphasen messen, Produktivität protokollieren, Tippfehler auswerten.. Neu ist die Fülle an technischen Möglichkeiten, mit deren Hilfe personenbezogene Daten getrackt, aufgezeichnet, analysiert, ausgewertet werden. So wird die Selbstoptimierung zum neuen Volkssport… Allein in den USA sind es mittlerweile 35 Millionen Menschen, die computergesteuert am eigenen Ich basteln. Und auch die Firmen springen auf: Bereits 2013 hat die Berliner Sparkasse über 300 Mitarbeitende mit digitalen Schrittzählern ausgestattet. 10’000 Schritte am Tag sollen ihre «Fitness steigern und die Krankheitsquote senken». Die amerikanische Apothekenkette CVS verlangt von Mitarbeitenden, die eine betriebliche Krankenversicherung abschliessen, deren Gewichtsdaten, Blutzuckerspiegel- und Körperfettwerte. Wer sich weigert, zahlt 50 Dollar mehr im Monat… In den bunten Welten von YouTube, Instagram, Facebook und Konsorten scheint alles wunderbar klar, übersichtlich und positiv. Du kannst, wenn du nur willst. Du musst nur den inneren Schweinehund besiegen, dann wird das schon…

(Liewo, 24. Februar 2019)

Was früher der Nationalstaat mit seiner Erziehung zu Gehorsam und Patriotismus oder die Kirche mit ihrer Erziehung zu Gläubigkeit, Fleiss und Selbstaufopferung war, sind heute die digitalen Programme der Selbstoptimierung. Die Freiheit, die wir uns mit dem Ablegen früherer Zwänge und Selbstbestimmung erkämpften, haben wir mittlerweile – ganz freiwillig und «selbstbestimmt» – wieder aufgegeben. Heute ist es nicht mehr Väterchen Staat oder der Pfarrer auf der Kanzel, der uns predigt, wie wir zu leben haben. Es sind die Apps auf unserem Smartphone, die diese Rollen übernommen haben und uns buchstäblich auf Schritt und Tritt vorschreiben, wie wir zu leben haben. So raffiniert ist der Kapitalismus. Dass wir meinen, wir lebten in einer Freiheit, die es in diesem Ausmass nie zuvor gegeben hat, während wir in Tat und Wahrheit an unserem eigenen Gefängnis basteln, dessen Stäbe immer enger und enger werden. Und wie beim Nationalismus und bei der Gläubigkeit: Alles Individuelle, Störende, Querliegende wird weggewischt, die Menschen werden sich gegenseitig und den Ebenbildern, denen sie nacheifern, immer ähnlicher – bis in letzter Konsequenz alle genau gleich sind. Wir sind geschockt, wenn wir die Soldaten Nordkoreas  im Fernsehen an ihrem Führer vorbeimarschieren sehen, alle wie ferngesteuert bis in die Fingerspitzen im gleichen Takt. Und tun selber, indem wir dem perfekt funktionierenden kapitalistischen Menschen nacheifern, nichts anderes…