Archiv des Autors: Peter Sutter

Hauptsache, es wächst

Um eine führende Rolle zu spielen, hat die im Medikamentenhandel tätige Frauenfelder Zur Rose Group seit ihrem Börsengang vor zwei Jahren mit Eurapon, Vitalsana, Apo-Rot und jüngst Medpex in Deutschland vier Online-Apotheken erworben und diese der 2012 übernommenen Doc Morris hinzugefügt. Vergangenes Jahr hat die Gruppe erstmals einen Umsatz von über einer Milliarde Franken erzielt. Anders sieht es beim Gewinn aus: 2018 resultierte beim Unternehmensergebnis ein Minus von 39,1 Millionen Franken, fast drei Millionen mehr als 2017. Aber Finanzchef Marcel Ziwica ist optimistisch: «Wachstum und der Gewinn von Marktanteilen sind momentan wichtiger als ein positives Ergebnis.»

(Tagblatt, 22. März 2019)

Augen zu und unten durch. Hauptsache, das Monster wächst – auch wenn es sich laufend selber wieder wegfrisst. Und so funktioniert doch auch der Kapitalismus insgesamt. Augen zu und unten durch. Atomkraftwerke, die das Wirtschaftswachstum hier und jetzt beschleunigen, aber so viel lebensbedrohlichen Müll produzieren, dass noch unzählige, heute noch nicht einmal geborene Generationen darunter zu leiden haben werden. Der Verkehr zu Lande und in der Luft, der unaufhörlich wächst und die Erde einem Klimakollaps entgegenführt, dessen Folgen schlicht und einfach unbezahlbar sein werden. Kreuzschiffe, die immer grösser werden und Fundamente ganzer Küstenstädte wie Venedig ins Wanken bringen…

In der nachkapitalistischen Zeit ist das Ziel der Wirtschaft nicht mehr Wachstum, sondern die Versorgung der Menschen – aller Menschen – mit den lebensnotwendigen Gütern. Dies im Einklang mit der Natur und immer im Hinblick auf künftige Generationen, die genau das gleiche Recht auf ein gutes Leben haben wie die heutige. Im Vordergrund stehen nicht Konkurrenz und Wettbewerb, sondern das Gemeinwohl und das Eingebettetsein in die Kreisläufe der Natur.

Fünf Mädchen bringen einen Präsidenten zu Fall

Der Entscheid sei ihm nicht leichtgefallen, gesteht Nursultan Nasarbajew, der Präsident Kasachstans, in einer Fernsehansprache. Doch nach 30 Jahren an der Macht habe er sich dazu entschlossen zurückzutreten. Schlussendlich waren es wohl fünf kleine Mädchen, die dem Präsidenten klarmachten, dass er als Landesvater ausgedient hat. Die Kinder waren zwischen drei Monaten und 13 Jahren alt, als sie vergangenen Monat beim Brand eines Hauses in Astana starben. Mutter und Vater konnten ihre Kleinen nicht retten, weil beide auf Nachtschicht waren, um die Familie durchzubringen. Die Tragödie löste wütende Proteste von Müttern aus: gegen miese Arbeitsbedingungen, gegen Armut, gegen schlechte Gesundheitsversorgung – und letztlich gegen das unfähige Regime.

(Tages-Anzeiger, 20. März 2019)

Es mag ja ein «unfähiges Regime» sein. Aber das ist nur ein Teil der Realität. Der andere, das ist der Kapitalismus. Was nämlich Nursultan Nasarbajew das Amt gekostet hat, könnte ebenso gut auch hierzulande – unter einem «fähigen» Regime – geschehen sein. Denn auch in der Schweiz gibt es Eltern, die aus existenziellen Gründen beide Nachtschicht arbeiten und während dieser Zeit ihre Kinder allein lassen müssen. «Zum Glück» hat sich diese Tragödie im fernen Kasachstan ereignet, so können wir bequem mit dem Finger auf einen «unfähigen» Regierungspräsidenten zeigen und so tun, als hätten wir mit dem Ganzen nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun. In Tat und Wahrheit ist der Schuldige aber nicht der Präsident Kasachstans, sondern ein Wirtschaftssystem, das auf die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtet ist, in Kasachstan ebenso wie in der Schweiz und überall. Interessant ist ja die Frage, ob der schweizerische Bundesrat ebenfalls zurücktreten würde, wenn sich ein solches Unglück hierzulande ereignen würde. Wohl kaum…

«Wir können nicht einfach nur die Fassade ändern»

Im Dokumentationsfilm «Das Schweigen der Vögel», in dem es um das Verschwinden der Vögel aus der Schweizer Landschaft geht, sagt der Umweltwissenschaftler Philipp Roc: «Wir müssen diesen Wachstumswahnsinn stoppen. Dieses Modell funktioniert nicht. Die Welt hat ihre Grenzen und wir können nicht immer weiter wachsen. An ewiges Wachstum zu glauben, ist eine Illusion. An einem bestimmten Punkt ist Schluss. Es wäre besser, nicht zu warten, bis die Natur uns stoppt, wenn es kein Wasser mehr gibt und keine Nahrung und wir unsere Nachbarn wegen des letzten Stück Schinkens umbringen. Es wäre klug, ein Leben im Gleichgewicht mit der Natur anzustreben, statt mit diesem absurden System von Wachstum und Wettbewerb weiterzumachen.» Und Dominique Bourg, Professor an der Universität Lausanne, meint: «Nur so etwas nebenbei reicht nicht. Wir müssen mit voller Kraft systematisch handeln. Unser ganzes System, das sich über Jahrhunderte entwickelt har, ist betroffen. Wir können nicht einfach nur die Fassade ändern, wir müssen das System im Kern ändern.»

(«Das Schweigen der Vögel», Schweizer Fernsehen SRF1, 20. März 2019)

Wir müssen das System im Kern ändern. Mit anderen Worten: Wir müssen den Kapitalismus überwinden. Doch noch laufen wir mit Scheuklappen durch die Welt: Hier die Gewerkschaften, die sich für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen einsetzen, aber mit Naturschutz und dergleichen nichts am Hut haben. Dort die Sozialdemokraten, die sich zwar zähneknirschend die «Überwindung des Kapitalismus» ins Parteiprogramm geschrieben haben, in der parlamentarischen Kleinarbeit aber nichts davon in die Realität umsetzen. Hier die Grünen, die sich auf Naturschutz, Energiepolitik und ökologische Themen eingeschossen haben, für die aber gewerkschaftliche Fragen ein rotes Tuch sind. Dort die Bauern, die sich wegen der Konkurrenzierung durch ausländische Produkte Sorgen machen, aber nicht im Traum auf den Gedanken kommen, dieses Problem durch eine Änderung des globalen Wirtschaftssystems anzupacken. Und so bewegen sich alle mit ihren Scheuklappen rund um den heissen Brei, ohne es offen auszusprechen, was doch, wenn man ehrlich wäre, insgeheim alle ahnen: Alles, ob Arbeitsbedingungen oder Naturschutz, ob Lohnfragen oder existenzielle Bedrohungen der Landwirtschaft, alles hängt mit allem zusammen und dieses Gemeinsame ist eben der Kapitalismus. Die Forderung, dass wir das «System im Kern ändern» müssen, können wir nur erfüllen, wenn wir alle unsere gegenseitigen Schauklappen ablegen und nicht mehr das uns voneinander Trennende und uns Unterscheidende in den Vordergrund stellen, sondern das Gemeinsame und uns Verbindende.

Sind wir alle nur noch Marionetten?

SBB-Konzernchef Andreas Meyer will im Güterverkehr weiter sparen, obwohl die Tochtergesellschaft SBB Cargo im vergangenen Jahr einen Gewinn von 12,9 Millionen Franken erzielt hat. Bis zum Fahrplanwechsel 2019/2020 sollen 170 Verladestationen mit geringer Güterfrequenz überprüft und allenfalls geschlossen werden. Klar ist: Je weniger dicht das Netz mit Verladestationen ist, desto mehr Lastwagen werden auf den Schweizer Strassen unterwegs sein.

(www.srf.ch)

Absurder geht es nicht: Obwohl ein Gewinn erzielt wurde, muss zusätzlich gespart werden. Welche unsichtbare Hand, welche «höhere» Macht zwingt uns dazu, solchen Unfug zu treiben? Sind wir alle nur noch Marionetten in einem teuflischen Spiel, das uns dazu verdammt, uns gegenseitig zu vernichten? Mehr Güter von der Schiene auf die Strasse – so ziemlich das Dümmste, was man tun kann, und allen gegenwärtigen Bemühungen gegen den Klimawandel diametral entgegen laufend.

«Die Autobranche muss zittern»

«Die Autobranche muss wieder zittern» titelt der Tages-Anzeiger am 19. März 2019. Und weiter: Die Autobranche befürchte einen «Rückfall in ein autofeindliches Zeitalter», seit die neue Umweltministerin Simonetta Sommaruga jüngst eine «Breitseite gegen Offroader» platziert habe und einen «Gleichschritt der Schweiz mit der EU bei den Klimazielen für Neuwagen» befürworte.

(Tages-Anzeiger, 19. März 2019)

So wenig also braucht es, um die mächtige Automobilbranche zum Zittern zu bringen. Wie würde diese wohl reagieren, wenn tatsächlich «autofeindliche» Politiker und Politikerinnen an die Macht kämen, die so etwas Revolutionäres wie die Abschaffung des privaten Motorfahrzeugs fordern würden? Und doch wäre dies das einzig Vernünftige. Schon heute beweisen Millionen von Europäern und Europäerinnen, dass man auch ohne Auto gut leben kann. Sie alle benützen den öffentlichen Verkehr und, wenn es anders nicht geht, ab und zu mal ein Taxi. Das private Auto ist an seine Grenzen gestossen, es richtet viel mehr Schaden als Nutzen an, es vergiftet die Umwelt, trägt zur lebensbedrohenden Klimaerwärmung bei, beeinträchtigt die Lebensqualität all jener Menschen, die entlang von Strassen leben müssen, trägt zur masslosen Verschleuderung von Rohstoffen bei, frisst Land und Geld, das man für soviel Gescheiteres brauchen könnte, gefährdet die Sicherheit von Fussgängerinnen, Kindern und Velofahrern. Das private Auto ist definitiv ein Auslaufmodell. Eine Berechtigung hat das Auto nur als Nutzfahrzeug, für Transporte, als Ambulanz, Feuerwehr, Polizei und Taxi. Würde man allerdings das private Auto tatsächlich abschaffen wollen, würde wohl ein Sturm der Entrüstung nicht nur durch die «bürgerlichen», sondern auch durch die «linken» Parteien gehen. Denn eine Abschaffung des Autos hätte den Verlust Zehntausender von Arbeitsplätzen zur Verfügung. Hier zeigt sich ein weiteres kapitalistisches Dilemma: die betriebswirtschaftliche Ordnung der Arbeitswelt. Die Schliessung eines Betriebs oder gar die Auflösung einer ganzen Branche bedeutet für die betroffenen Arbeitnehmenden und ihre Familien eine Katastrophe. Hätten wir statt einer betriebswirtschaftlichen eine gemeinwirtschaftliche Ordnung, wäre dies alles kein Problem: Es würden nur noch jene Firmen überleben, die sozial und ökologisch sinnvolle Produkte herstellen (keine Frage, dass dann zum Beispiel auch die Rüstungsindustrie ersatzlos verschwinden würde) und die Arbeitnehmenden wären dann gleichmässig auf alle diese Firmen verteilt, so dass es erstens gar keine Arbeitslosen mehr gäbe und zweitens alle Arbeitnehmenden weniger lange als bisher arbeiten müssten. «Die nächste Generation X und Y», so Oliver Gassmann, Professor am Institut für Technologiemanagement der Universität St. Gallen, «realisiert ihre Individualisierung nicht mehr über das Auto, sondern über Lebensstile».

Tierversuche: Millionenfaches Leiden

614’581 Tiere wurden 2017 für Tierversuche eingesetzt. Meist handelte es sich dabei um Nager, Mäuse fast immer, zum Teil auch Ratten. Daneben wurden jeweils rund 60’000 Fische und Vögel für Tierversuche verwendet. Nun hat eine Gruppe von Tierschützern mit 124’000 Unterschriften eine Initiative zustande gebracht, die jegliche Tierversuche verbieten will. Doch damit nicht genug. Selbst die Einfuhr jeglicher Produkte, für die Tierversuche durchgeführt wurden, soll unterbunden werden. «Das Tier ist nicht dazu da, uns Menschen für Versuche zu dienen», sagt Renato Werndli, Co-Präsident des Initiativkomitees. Die Gegner der Initiative argumentieren vor allem mit dem «Wirtschaftsstandort» Schweiz: Durch ein Verbot der Tierversuche erwachse der Schweiz ein gravierender Standortnachteil gegenüber jenen Ländern, die in Sachen Tierversuche weniger restriktiv seien.

(W&O, 18. März 2019)

Das kapitalistische Konkurrenzprinzip heiligt alle Mittel. Statt dass sich jedes Pharmaunternehmen auf einen Teilbereich der Medizin spezialisiert und in allen anderen Bereichen das Feld den übrigen Firmen überlässt, forscht jedes Unternehmen – im Wettstreit mit allen übrigen – in möglichst vielen Teilbereichen, in der Hoffnung im einen oder anderen oder möglichst vielen Bereichen die Nase vorn zu haben. Opfer dieses Wettlaufs sind die Tiere, die für einen bestimmten Forschungszweck nicht nur einmal, sondern – durch die sich gegenseitig konkurrenzierenden Unternehmen – gleich hundert- und tausendfach geopfert werden. Eigentlich ist es logisch: Ein Wirtschaftssystem, das nicht gut ist für die Menschen, kann auch nicht gut sein für die Tiere, für die Natur und für die zukünftigen Lebensgrundlagen. Alles ist grenzenloses Leiden…

Serafe: Der Unfug öffentlicher Ausschreibungen

 

Fehler beheben!

Ihr Hinweis

0 / 5000

Art des Fehlers

Ihr Name

Ihre E-Mail

on progress

Seit Beginn des Jahres 2019 ist die Firma Serafe für die Versendung der Rechnungen für die Radio- und Fernsehgebühren in der Schweiz verantwortlich. Zuvor hatte die Firma Billag die Rechnungen ausgestellt, hatte aber im Ausschreibungsverfahren gegenüber der Firma Serafe, die ein günstigeres Angebot eingereicht hatte, den Kürzeren gezogen. Bereits bei den ersten 3,6 Millionen Rechnungen, die Serafe verschickte, zeigten sich allerdings Probleme. Viele Adressen waren fehlerhaft. Weil auf den Rechnungen stand, bei Problemen solle man sich bei der Einwohnerkontrolle melden, wurden diese regelrecht mit Anfragen überflutet. Laut der «Aargauer Zeitung» gingen allein im Zürcher Bevölkerungsamt 3000 Anrufe ein. In Bern waren dies 900 Anrufe und 1200 Datensätze mussten geprüft werden. Dies stoppte allerdings, als das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) entschied, dass künftig nur noch die Serafe als Auskunftsstelle fungieren solle und nicht mehr die Gemeinden. Darüber zeigt sich die Serafe nun verärgert. Mediensprecher Erich Heynen spricht gegenüber der «AZ» von einem sehr grossen «Mehraufwand», der jetzt bewältigt werden müsse. Nicht nur müsse man sich nun um «Tausende von Reklamationen» kümmern, sondern bekomme auch noch Informationen, die sie gar nichts angingen. So melden ihnen viele Leute beispielsweise unnötigerweise ihren Umzug. Mit einem solchen Mehraufwand habe man schlicht nicht gerechnet… Die SP-Nationalrätin Ursula Schneider meint, es sei offensichtlich, dass der Serafe die nötige Erfahrung fehle. Die Vize-Stadtpräsidentin von Murten geht aber noch weiter: «Der Bundesrat könnte zum Beispiel prüfen, vorzeitig aus dem Vertrag auszusteigen.» Mit diesem Vorschlag wird sich der Bundesrat am Montag während der Fragestunde des Nationalrats auseinandersetzen. Die Rechnungen der Serafe dürften aber noch eine Weile länger fehlerhaft verschickt werden. Der Firma ist es nämlich nicht erlaubt, falsche Adressen selbst anzupassen.

(www.watson.ch)

Hier wird das kapitalistische Konkurrenzprinzip ad absurdum geführt. Blindlings wird der günstigste Anbieter gewählt – ungeachtet möglicher späterer Folgekosten, die vermutlich um ein Mehrfaches höher sind als das, was mit der Wahl des billigsten Anbieters «eingespart» wurde. Folgekosten, die letztlich irgendjemand berappen muss und die dennoch in keiner Bilanz erscheinen. Ganz abgesehen von all dem Ärger und der Zeitverschwendung, von denen schliesslich die Kundinnen und Kunden, aber auch – in diesem Falle – die öffentliche Hand betroffen sind. Da mutet es wie ein schlechter Witz an, dass die zuständige Geschäftsprüfungskommission von National- und Ständerat (GPK) beteuert, sie hätte «keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass die Auftragsvergabe nicht korrekt durchgeführt worden ist». Die Ausschreibungsverfahren und die Bewertung der Offerten, so die GPK, seien gewissenhaft und im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorgaben durchgeführt worden. Nach Ansicht der GPK gibt es daher keinen Handlungsbedarf. Sie erwarte aber, dass es in der Übergangsphase keine Schwierigkeiten gebe und die Leistungen vom neuen Inkassounternehmen wie vereinbart erbracht würden. Gibt es einen eklatanteren Widerspruch zwischen solchen schönen Worten und der Realität? Wenn man noch die gegenwärtigen Probleme der SBB mit den neuen Doppelstockzügen von Bombardier und unzählige weitere Beispiele öffentlicher Ausschreibungen und ihrer Folgekosten dazurechnet, dann muss man sich schon fragen, wie viel Unfug da noch angerichtet werden muss, bis der politische Wille, vom öffentlichen Ausschreibungsverfahren Abschied zu nehmen, mehrheitsfähig ist.

 

 

Brexit: Das gute Leben

Es nützte nichts, dass der Speaker des britischen Unterhauses mit rotem Kopf immer wieder «Order! Order!» in die altehrwürdige Westminster Hall rief. Die Szenen blieben chaotisch. Tag für Tag mühten sich die Abgeordneten diese Woche mit Abstimmungen ab, nur um am Ende zur frustrierenden Erkenntnis zu gelangen, dass der Brexit-Albtraum weitergeht. Keine zwei Wochen vor dem offiziellen Austrittsdatum ist immer noch unklar, wann, wie und ob die Briten die EU verlassen. Der Brexit hat das politische Gefüge Grossbritanniens zertrümmert. Er hat das Land zweigeteilt. 51,9 Prozent stimmten am 23. Juni 2016 für den EU-Austritt, 48,1 Prozent dagegen. Der Spalt ging durch Familien, Generationen, Regionen und Schichten. Die Frage der EU-Mitgliedschaft hat die Parteien fragmentiert und die Politik paralysiert. In Grossbritannien, dessen politisches System auf Mehrheiten basiert, gab es plötzlich keine Mehrheiten mehr. Das Unterhaus ist seit zwei Jahren ausserstande, einen Konsens zu finden über die Zukunft das Landes.

(NZZ am Sonntag, 17. März 2019)

Letztlich ist das ganze Gerangel um den Brexit eine reine Scheindiskussion. Auch die Britinnen und Briten – wie die Bewohnerinnen und Bewohner aller Länder – wollen nicht anderes als ein gutes Leben: faire Arbeitsbedingungen und Löhne, ausreichende Renten, eine gute medizinische Versorgung, das Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Nun ist es einfach so, dass 51,9 Prozent der Bevölkerung denken, dass sich das gute Leben ohne EU besser erreichen lässt, während die übrigen 48,1 Prozent vom Gegenteil überzeugt sind. Bei alledem geht vergessen, dass sowohl Grossbritannien wie auch die EU kapitalistische Gebilde sind und alle sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Brennpunkte nicht so sehr eine Frage der EU sind, sondern vielmehr eine Frage des Kapitalismus. Um das gute Leben zu verwirklichen, müsste man daher nicht so sehr über den Verbleib oder den Austritt aus der EU debattieren, sondern über den Verbleib oder den Austritt aus dem Kapitalismus. Sonst könnte es schon bald zu einem bösen Erwachen kommen: Grossbritannien verlässt die EU, aber im Wesentlichen bleibt alles beim Alten und das gute Leben wird weiterhin auf sich warten lassen, weil Grossbritannien auch nach dem Austritt aus der EU weiterhin ein durch und durch knallhartes kapitalistisches Land bleiben wird, mit zunehmender sozialer Ungleichheit, Ausbeutung der Arbeitenden und der Armen durch die Reichen und Besitzenden und einer unbeirrt an Profit- und Wachstumszwang orientierten Wirtschaft.

Mehr Geld für Strassen als für Menschen

Internationale Geldgeber haben 6,2 Milliarden Euro zur Unterstützung der Geflüchteten im Bürgerkriegsland Syrien zugesagt. Das teilte der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe, Christos Styliades, am Ende einer dreitägigen Geberkonferenz in Brüssel mit. Die Summe liegt allerdings unter den 8,8 Milliarden Dollar, die nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) zur Versorgung der Millionen Vertriebenen in Syrien und den Nachbarländern benötigt werden.

(www.zeit.de)

6,2 Milliarden Euro – das ist weniger als die Hälfte jenes Betrags, den der schweizerische Nationalrat in den kommenden fünf Jahren in Betrieb, Unterhalt und Ausbau des Nationalstrassennetzes investieren möchte…

Die sechsjährige Sophie mischt sich in die Brexit-Verhandlungen ein

Während die Welt über die Brexit-Verhandlungen nur noch den Kopf schüttelt, macht sich die sechsjährige Sophie aus London ihre eigenen Gedanken – sie kann es nicht verstehen, dass sich Grossbritannien und die EU voneinander trennen wollen. Und deshalb hat sie dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk einen Brief geschrieben: «Lieber Herr Tusk, ich lebe in Großbritannien. Ich weiß, dass wir die EU verlassen. Aber ich denke, dass wir Freunde bleiben sollten. Könnte ich bitte ein signiertes Foto von Ihnen für mein Europabuch haben. Von Sophie, sechs Jahre alt. Ich habe dir ein Einhorn gemalt.»  Donald Tusk hat Sophies Brief abfotografiert und auf Instagram hochgeladen. Dazu antwortet er der kleinen Britin, schlicht und schön: «Wir werden immer Freunde sein, Sophie». Dazu ein rotes Herzchen-Emoji. Das Bild hat innerhalb von drei Stunden bereits über 20’000 Likes auf Instagram gesammelt.

(www.stern.de)

Zuerst die 16jährige Greta Thunberg. Und jetzt die sechsjährige Sophie aus London. Kinder und Jugendliche, die nicht davor zurückschrecken, sich in die «hohe» Politik einzumischen. Was für eine wunderbare Chance. Greta Thunberg sprach von einem «brennenden Haus», in dem wir uns befinden. Sophie spricht von Freundschaft. Worte und Bilder, die uns berühren und die uns helfen können, uns aus den oft viel zu komplizierten, abstrakten und verworrenen Gedankengebäuden der Erwachsenen zu befreien. Und wie grossartig von Donald Tusk, Sophies Brief zu beantworten. Hier das Freundschaftsangebot, dort ein rotes Herzchen – was für eine Energie inmitten einer Debatte, die immer absurdere Formen annimmt und in der die «gescheiten» Erwachsenen nichts Besseres wissen als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.