Archiv des Autors: Peter Sutter

Dinge wichtiger als Menschen

Nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris richten sich die Blicke bereits auf den Wiederaufbau des berühmten Kirchenbaus. Präsident Macron rief zu Spenden auf, um die Wiederherstellung der gotischen Kirche zu finanzieren. Spendenzusagen folgten prompt: Der Server der französischen Stiftung für Kulturerbe, auf dem für Notre-Dame gespendet werden kann, brach zeitweise zusammen. Die Milliardäre François Pinault und Bernard Arnault, beide Eigner von Luxusgüterkonzernen, die Kosmetik-Dynastie Bettencourt sowie der Ölkonzern Total sagten Spenden von insgesamt 600 Millionen Euro zu.

(Tages-Anzeiger, 17. April 2019)

Laut einer neuesten Umfrage haben 21 Prozent der französischen Bevölkerung zu wenig Geld, um sich drei Mahlzeiten pro Tag leisten zu können. Hunderttausende von Kindern kommen ohne Frühstück in die Schule. 41 Prozent haben Schwierigkeiten, einmal pro Jahr in den Urlaub zu fahren. 14 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Zwischen 3000 und 4000 Pariserinnen und Pariser haben kein Dach über dem Kopf und nächtigen auf der Strasse. Ob sich wohl François Pinault, Bernard Arnault, die Dynastie Bettencourt und der Ölkonzern Total auch schon mal Gedanken darüber gemacht haben, für die notleidende Bevölkerung Frankreichs 600 Millionen Euro zu spenden? Wohl kaum. Offensichtlich sind ihnen Dinge wichtiger als Menschen…

Wie das Kaninchen vor der Schlange

Auch in Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Es scheint einen unbeirrbaren Block aus Protestwählern zu geben, der zahlenmässig bei einem Sechstel bis einem Fünftel der Bevölkerung liegt und der seine Stimme immer einer laut und bestimmt auftretenden rechtspopulistischen Partei geben wird, wie zerzaust auch immer sich ihm diese präsentiert… Trotz nationaler Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen rechtspopulistischen Kräften Parallelen: die scharfe Rhetorik, die sich an Ausländern, an der EU und seit neuestem an der «Klimahysterie» abarbeitet und die die Angst vor der Globalisierung und vor Statusverlust instrumentalisiert. Das oft reaktionäre Bild von Familie und Heimat. Die Pose, der Anwalt des kleinen Mannes zu sein, der verraten wird von den städtischen «Eliten»… Das Fatale dabei: Viele der anderen Parteien haben sich längst auf das Spiel der Rechtsaussen eingelassen. Dänemarks Sozialdemokraten etwa eben sich im Gegenzug bisweilen populistischer als die Populisten. Angriffe auf Kulturschaffende durch norwegische Regierungspolitiker, politisch sanktionierte Hetze gegen Migranten in Dänemark – Dinge, die früher kaum denkbar gewesen wären, sind heute normal, die Gesellschaften sind nach rechts gerückt… Weder die Isolierung noch das Einbinden der Rechtspopulisten scheinen in Nordeuropa einen Unterschied zu machen, ihre Wahlergebnisse bleiben stabil. Aber das wird sich wohl auch nicht ändern, solange sich alle Politik nur mehr in einem Reagieren auf den Rechtspopulismus erschöpft, solange sämtliche politische Akteure dasitzen wie das Kaninchen vor der Schlange.

(Tages-Anzeiger, 16. April 2019)

Migration. EU. Klimakrise. Globalisierung. Städtische Eliten – vernachlässigte Landbevölkerung: Alle Probleme, welche die rechtspopulistischen Parteien beackern, sind Probleme des Kapitalismus und würden in einer nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung automatisch von der Bildfläche verschwinden. Das müsste eigentlich die Stunde der Linken sein. Doch weit gefehlt. Der «Linken» – oder dem, was von ihr übrig geblieben ist – scheint es ganz und gar am eigenen Mut zu fehlen. Statt einen neuen Gesellschaftsentwurf zu propagieren, hockt sie wie das Kaninchen vor der Schlange oder, schlimmer noch, biedert sich aus Angst vor weiteren Wählerverlusten, den Rechtspopulisten an. Höchste Zeit für eine Neuorientierung, für eine Radikalisierung und für eine umfassende Aufklärung darüber, dass all die grossen und kleinen Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, nichts anderes sind als die Folge eines Wirtschaftssystems, das vor lauter Profitgier und Gewinnsucht die Menschen, denen es angeblich dienen will, ganz und gar vergessen hat.

Berlin auf dem Weg in den Sozialismus?

Die Kernforderung des Berliner Bündnisses «Deutsche Wohnen & Co. enteignen», das aus zivilgesellschaftlichen Mieterinitiativen hervorgegangen ist, ist die Enteignung gewinnorientierter Immobilienkonzerne, die jeweils mehr als 3000 Wohnungen in Berlin besitzen. Das Bündnis strebt zu diesem Zweck einen Volksentscheid in Berlin an. Hintergrund ist die massive Erhöhung der Wohnungsmieten in den vergangenen zehn Jahren und das Fehlen preisgünstiger Wohnungen für Minderbemittelte. Von einer Enteignung betroffen wäre vor allem Deutsche Wohnen als wichtigster privatwirtschaftlicher Akteur auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Die Firma besitzt etwa 112’000 der mehr als 200’000 Wohnungen, die im Fokus der Enteignungsabsichten stehen. Laut der kürzlich veröffentlichten Bilanz 2018 stieg der operative Gewinn von Deutsche Wohnen um elf Prozent auf 480 Millionen Euro. Das Unternehmen kündigte daraufhin eine Erhöhung der Aktiendividende an. Die Erfolgsaussichten des Volksbegehrens sind nicht schlecht: Zwei repräsentative Umfragen im Auftrag von «Berliner Zeitung» und «Tagesspiegel» ergaben im Januar, dass 44 bzw. 54,8 Prozent der Berliner Enteignungen auf dem Wohnungsmarkt für sinnvoll halten. Das Bündnis bezieht sich in seiner Argumentation auf Artikel 15 des Grundgesetzes: «Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.»

(www.tagesschau.de)

Hoppla. Da ist man, mitten im Kapitalismus, auf ein in der Verfassung festgeschriebenes Grundgesetz gestossen, das von den heute in Deutschland herrschenden politischen Kräften bis weit in die Mitte oder gar in die «Linke» hinein schlichtweg als «sozialistisch» oder gar «kommunistisch» bezeichnet werden dürfte. Aber, oh Wunder: Rund die Hälfte der Bevölkerung steht dem Ansinnen, über 100’000 Wohnungen vom Privatbesitz in öffentlichen Besitz überzuführen, positiv gegenüber. Denkt also die Hälfte der Bevölkerung «sozialistisch» oder gar «kommunistisch»? Oder orientiert sie sich ganz einfach an jener Vision einer gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft, die in der deutschen Bundesverfassung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs festgeschrieben wurde? Höchste Zeit, dass das Rad auf ein vernünftiges Mass zurückgedreht wird. Und da könnte man, wenn man sich diesen Artikel 15 des Grundgesetzes vor Augen führt, noch einige Überraschungen erleben…

Hatte Karl Marx vielleicht doch recht?

Irgendwann sei Schluss. Die Großunternehmen würden immer größer und immer mächtiger. Unerträglich! Mit der Zeit würden die Widerstände gegen das herrschende System so stark, dass es kollabieren müsste. So beschrieb Karl Marx das Endspiel des Kapitalismus. Es komme zu einer immer stärkeren «Konzentration der Kapitalien… Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten… wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung», so heißt es im ersten Band von «Das Kapital», erschienen 1867. Am Ende komme, was kommen müsse – die Revolution. Der gesellschaftliche Kollaps sei die quasi notwendige Folge eines Prozesses, der zur immer weitergehenden «Konzentration der Produktionsmittel» führe. Wenige Firmen würden sehr groß und mächtig, alle anderen hätten keine Chance. Oder, wie Marx drastisch formulierte: «Je ein Kapitalist schlägt viele andere tot.»

(www.spiegel.de)

Karl Marx deckte mit grossem Scharfsinn die inneren Widersprüche des Kapitalismus auf und prophezeite, dass dieser infolge seiner Widersprüche früher oder später kollabieren würde. Heute sind wir auf dem besten Weg dazu und es ist wohl nicht übertrieben, die Behauptung aufzustellen, dass wir uns gegenwärtig in der Endphase des Kapitalismus befinden, in welcher er noch einmal, ein letztes Mal und heftiger denn je, seine wildesten Blüten treibt. Aber was kommt darnach? Einfach die Hände in den Schoss zu legen und abzuwarten, bis alles Bisherige zusammenbricht, könnte sich als überaus verhängnisvoll erweisen, ist doch denkbar, dass nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus das blanke Chaos herrscht, der Kampf aller gegen alle ums Überleben, weltweite Armut, Hunger, Not und Kriege. Höchste Zeit, hier und jetzt mit dem Aufbau einer alternativen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung anzufangen, welche den Kapitalismus nach und nach ersetzen könnte, so dass es zu einem möglichst sanften und schmerzlosen Übergang in ein nachkapitalistisches Zeitalter kommen kann.

Klimaschutzbewegung von «dunkelroten Ökosozialisten» unterwandert?

Dass die «Bewegung für den Sozialismus» aktiver Bestandteil der Schweizer Klimabewegung ist, dass an den Klimademonstrationen immer wieder Transparente mit Forderungen wie «System Change not Climate Change» oder «Kapitalismus versenken, Klima retten» zu sehen sind und dass eine Handvoll Aktivistinnen und Aktivisten an der UBS-Filiale in der Zürcher Bahnhofstrasse am 6. April rote Handabdrücke anbrachten, um die Beziehungen der Banken zu globalen Energie- und Rohstoffkonzernen anzuprangern – dies alles kommt bei gewissen «bürgerlichen» Politikern und Politikerinnen, die der Klimaschutzbewegung ohnehin skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, gar nicht gut an, schon sprechen sie von «dunkelroten Ökosozialisten», von denen die Klimabewegung unterwandert sei.

Bemerkenswerter Weise scheinen diese Kritiker von einem drohenden Klimakollaps, der die ganze Menschheit in den Abgrund reissen könnte, weniger Angst zu haben als vor dem «Sozialismus». Ebenso bemerkenswert ist, dass all jene, denen beim Wort «Sozialismus» alle Haare zu Berge stehen, offensichtlich kein Problem mit der Tatsache haben, im Kapitalismus zu leben, immerhin einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das in seiner heutigen globalen Ausbreitung nachweislich dafür verantwortlich ist, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch nie so gross waren wie heute, und das in seiner unersättlichen Profitsucht und seinem unendlichen Wachstumswahn die Hauptursache für die ökologischen Bedrohungen bildet, mit denen wir heute konfrontiert sind.

Vielleicht ist bei alledem die Idee einer Alternative zum Kapitalismus in der Form einer Art von «Sozialismus» gar nicht so dumm. Umso mehr, als dass das, was den jungen Aktivisten und Aktivistinnen der «Bewegung für den Sozialismus» vorschwebt, ganz und gar nicht ein Rückfall in eine frühere, historisch überholte Epoche ist. Hierfür sind sie viel zu pragmatisch und zukunftsgerichtet. «Sozialismus» könnte vielmehr so etwas sein wie ein «Arbeitstitel» einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die sorgsam bedacht wäre, alle früher gemachten Fehler und Unzulänglichkeiten zu vermeiden und die nicht «von oben herab» verordnet wäre, sondern, wie Aktivisten und Aktivistinnen der Klimabewegung immer wieder betonen, «von unten herauf» zu entwickeln wäre, aus dem Engagement all jener, die nicht auf eine Zukunft der Menschheit verzichten möchten. Und da wäre es dann schön, wenn all jene, die heute nur als Kritiker und Gegner der aktuellen Klimabewegung auftreten, ebenfalls mit dabei wären, um ihre Vorbehalte konstruktiv und zielführend einzubringen. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: «Was alle angeht, können nur alle lösen.»

Wettlauf der Postboten: Krankmachendes Konkurrenzprinzip

K.F. ist Paketbote bei der Distributionsbasis Hinwil ZH – und hat langsam genug. «Was wir Postboten erleben, ist pure Ausbeutung», sagt er und führt aus: «Begonnen hat es vergangenen September mit der Einführung des Systems ‹mytime›. Damit wird unsere effektive Arbeitszeit registriert. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie auch gutgeschrieben wird. Wie viele der geleisteten Stunden am Ende wirklich verbucht werden, entscheidet nämlich das computergesteuerte System selber. Indem es Durchschnittswerte aller Paketboten pro Tour ausrechnet – und diese dann für einzelne Mitarbeiter quasi zum Gesetz werden. Ein Beispiel: Brauchen Pöstler auf einer Tour montags für 240 Pakete durchschnittlich 7 Stunden, nimmt das System diese Zeit für die Berechnung einer Durchschnittszeit auf. Erbt nun ein weiterer Pöstler die Tour, muss er unter Leistungsdruck die gleiche Zeit schaffen. Benötigt er aber 8 Stunden, ist das sein persönliches Problem. Gutgeschrieben werden nur die 7 Stunden von den Vorgängern. Die übriggebliebene Stunde muss B. der Post schenken. Quasi zur Strafe, weil er zu langsam war. Ist er indes schneller, kommen seine Teamkollegen unter Druck, denn die Durchschnittszeit sinkt so für den kommenden Montag für diese Tour. Für F. ein Skandal: «Das Nachsehen haben am Ende alle Pöstler – die älteren oder nicht topfiten Mitarbeiter, weil sie unter enormen Leistungsdruck geraten. Und die schnellen Pöstler, weil sie damit ihrem Team schaden.» Alle Postboten stünden seither miteinander in Konkurrenz, die teils kiloschweren Postpakete schnellstmöglich zum Kunden zu bringen. Frauen treten gegen Männer an, Alte gegen Junge, Ortskundige gegen solche, die eine Tour nur selten machen. Besonders arm dran sind die älteren Mitarbeiter. Das sagt auch M.P., der im Raum Basel als Paketbote angestellt ist. Er ist 62 Jahre alt und muss die gleiche Leistung erbringen wie ein junger Pöstler: «Ich habe seit Einführung des neuen Systems darum Hunderte Stunden gratis gearbeitet, weil es für mich extrem schwer ist, die Vorgaben des Systems zu erfüllen.»

(www.blick.ch)

Es ist dieses verheerende kapitalistische Konkurrenzprinzip, das die Menschen in einen gnadenlosen gegenseitigen Wettkampf zwingt: Wer härter und schneller arbeitet als andere, zwingt diese dazu, noch härter und noch schneller zu arbeiten, womit er selber, der die anderen dazu angetrieben hat, nun seinerseits unter noch grösseren Druck gerät, noch härter und noch schneller zu arbeiten – bis an die äusserste Grenze des physisch und psychisch gerade noch Aushaltbaren. Dieses Prinzip durchzieht die gesamte kapitalistische Arbeitswelt und führt dazu, dass immer mehr Menschen an übermässigem Stress und Erschöpfung leiden und die Freude an ihrer Arbeit verlieren.

In einer nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wäre das Konkurrenzprinzip ausgehebelt. Menschen wären nicht mehr gezwungen, gegeneinander zu arbeiten, sie würden miteinander und füreinander arbeiten und jeder und jede würde dabei aufgrund ihrer Fähigkeiten, ihrer Begabungen und ihrer Belastbarkeit ihr Bestes geben. Der Erfolg eines Unternehmens oder Projekts wäre dann auf alle gleichmässig verteilt und niemand müsste sich als Versager oder Verlierer vorkommen. Dass dadurch die «Produktivität» des gesamten Systems leiden würde, diese Befürchtung ist wohl unbegründet. Im Gegenteil: Zufriedene, weder über- noch unterforderte Menschen erbringen wohl die bessere Gesamtleistung als Menschen, die ständig bis an den Rand ihrer Belastbarkeit oder darüber hinaus getrieben werden.

 

Der Kapitalismus ist die Katastrophe

Das staatliche russische Statistikamt befragte 60’000 Familien im ganzen Land zu ihren Lebensumständen. Auf die Frage, ob man für jedes Familienmitglied zwei Paar bequeme und der Jahreszeit angepasste Schuhe kaufen könne, antworteten 35 Prozent der Befragten mit Nein. 80 Prozent der Befragten klagten, sie hätten Probleme, sich mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Eine Woche Ferien pro Jahr könne sich nur jede zweite russische Familie leisten. Und zwei Drittel der Landbevölkerung hätten keine Toilette im Haus. Damit verglichen scheint beispielsweise der Kreml-Sprecher Dmitri Paskow auf einem anderen Planeten zu leben. Als er vor drei Jahren die Eisprinzessin Tatjana Nawka heiratete, trug er eine seltene Luxusuhr im Wert von 700’000 Franken am Handgelenk. Seine Flitterwochen verbrachte er auf einer der grössten Segelyachten der Welt, dem Maltese Falcon, vor der Küste Sardiniens. Mietkosten um die 400’000 Franken pro Woche. Ähnliche Zustände zum Beispiel auch in Grossbritannien: «Wir haben in Grossbritannien», so die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy, «Behinderte und Rentner, die verhungern. Millionen sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Zahllose Bibliotheken sind geschlossen, das Studium wurde unerschwinglich, die Jungen werden nicht ausgebildet und sind perspektivlos – die Suizidrate unter Teenagern ist massiv gestiegen. Rund um den Globus herrscht ein Katastrophenkapitalismus: Ein Land nach dem andern wird ausgeplündert im Krieg der Superreichen gegen die Armen.»

(Tages-Anzeiger, 9. April 2019)

Soll sich etwas zum Guten wenden, dann muss sich alles zum Guten wenden. Denn der Kapitalismus ist weltweit so sehr in sich verzahnt, dass es eine Illusion wäre, nur da und dort ein kleines Rädchen der Maschine auszuwechseln und schon wäre alles gut. Es braucht eine weltweite Bewegung für eine neue, nichtkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Wenn A. L. Kennedy vom «Katastrophenkapitalismus» spricht, so ist das irreführend. Dieser Begriff erweckt den Anschein, es gäbe neben dem gegenwärtigen «Katastrophenkapitalismus» noch andere, weniger katastrophale Varianten des Kapitalismus. Dies wäre ein Trugschluss. Es gibt nur einen Kapitalismus und dieser ist die Katastrophe.

Alle Länder der Welt müssten einen Pakt schliessen. Darin wäre enthalten, dass kein Land jemals ein anderes militärisch bedrohen oder angreifen würde. Dann könnte man sämtliche Armeen abschaffen und ebenfalls die Produktion von Waffen. Die frei gewordenen Mittel könnten dann zur Verbesserung der Lebensbedingungen eingesetzt werden. Denn dies wäre der zweite Punkt des Paktes: Alle Länder der Welt bemühen sich gemeinsam um eine neue Wirtschaftsordnung, in der es nicht mehr um Gewinnmaximierung und Wachstumswahn geht, sondern um die Sicherung der Lebensbedingungen der Menschen, aller Menschen, eingebaut in den Kreislauf der Natur und der Zukunft.

Der Widerspruch rein betriebswirtschaftlichen Denkens

Im Hauptbahnhof Zürich eröffnet Valora am 6. April den ersten Laden, der ganz ohne Kasse auskommt. Voraussetzung fürs Einkaufen in der Avec Box ist eine entsprechende App. Damit können sich Personen ab 14 Jahren registrieren. Wer die App herunterladen will, muss seine Identitätskarte einscannen. Die Avec Box ist von Montag bis Donnerstag jeweils von 04.30 Uhr bis 00.30 Uhr und am Freitag 04.30 Uhr durchgehend bis Montag 00.30 Uhr offen. Der Laden kommt fast ohne Personal aus: Die Mitarbeiter werden während den Stosszeiten am Morgen und am Abend präsent sein und in dieser Zeit die Kunden beim Einkaufen unterstützen, die Regale auffüllen und die Räumlichkeit in Ordnung halten. Verkauft werden in der Avec Box Esswaren für unterwegs, Lebensmittel für den täglichen Bedarf und Wichtiges für den Haushalt. Insgesamt werden rund 1000 Artikel angeboten.

(www.20minuten.ch, 5. April 2019)

Und was tun wohl die Mitarbeitenden, die am Morgen und am Abend im Einsatz sind, während des übrigen Tages? Eine zweite oder dritte Stelle, die genau in diese Lücke passt, werden sie wohl kaum finden. Die Avec Box von Valora ist indessen nur eines von zahllosen Beispielen für die Blindheit rein betriebswirtschaftlichen Denkens: Der eigene Betrieb wird auf Teufel kaum raus «gesundgespart», optimiert und rationalisiert, so dass Menschen, die gerade noch eine mehr oder weniger sinnvolle und einigermassen angemessene Entlöhnung hatten, entweder auf der Strasse stehen oder sich mit mickrigsten Löhnen in irgendwelchen Hilfsjobs gerade knapp über Wasser halten können. So wächst die Zahl der zunehmend von der Konsumgesellschaft Ausgeschlossenen in gleichem Masse wie die Zahl der von der Wirtschaft Jahr für Jahr in grösserer Menge herstellten Produkte und Dienstleistungen. Ein Widerspruch, der eines Tages, wenn es so weitergeht, an sich selber zerbrechen muss.

Griff in die sozialistische Mottenkiste?

«Die Jungsozialisten haben diese Woche die 99-Prozent-Initiative eingereicht. Deren simples Rezept lautet: Kapitaleinkommen sollen 1,5 mal so stark besteuert werden wie Arbeitseinkommen. Unter normalen Umständen haben derlei Begehren aus der sozialistischen Mottenkiste keine Chance. Doch die Umstände sind nicht mehr so normal wie auch schon. Die Lust auf politische Experimente steigt, irrationales Wahlverhalten nimmt zu.»

(Stefan Schmid, Tagblatt, 6. April 2019)

Was ist normal? Was ist verrückt? Was ist rational? Was ist irrational? In der «bürgerlichen» Schweiz scheint es normal zu sein, dass gewisse Menschen 300 Mal mehr verdienen als andere. Normal zu sein scheint, dass die Aktionäre der 30 grössten Schweizer Unternehmen Dividenden in der Höhe von 41 Milliarden Franken einstreichen, ohne dafür auch nur den kleinen Finger krumm gemacht zu haben. Normal zu sein scheint, dass in unzähligen Familien im reichsten Land der Welt fürs Essen pro Tag und Kopf nicht einmal sieben Franken zur Verfügung stehen. Die Aussagen von Stefan Schmid zeigen, dass man sich an das Verrückte und Absurde, wenn es nur genug lange zum gewöhnlichen Alltag gehört hat, mit der Zeit so sehr gewöhnen kann, dass das Normale zum Verrückten wird und umgekehrt. Das Ansinnen, ein ganz klein wenig mehr Gerechtigkeit zu schaffen, indem Kapitalgewinne höher besteuert werden sollen als Arbeitseinkommen, wird zum «Griff in die sozialistische Mottenkiste», zum politischen «Experiment», dem nur ein «irrationales» Wahlverhalten zum Durchbruch verhelfen könnte. Doch vielleicht leben wir ja schon bald in «normalen» Zeiten, in denen die heutigen Exzesse ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung als Relikte einer kapitalistischen «Mottenkiste» erscheinen werden, die in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz mehr haben.

Bis das ganze Haus zusammenfällt

Laut einer Studie der Firma x28 waren in der Schweiz am 15. Februar 2019 196’841 Jobs unbesetzt. Am meisten gesucht sind Arbeiter im Baugewerbe. Rund 9500 Stellen sind in dieser Branche ausgeschrieben. Danach folgt das Gesundheitswesen mit etwas über 8500 offenen Stellen. Auch in der Gastronomie und der Hotellerie werden Mitarbeiter händeringend gesucht. Dort sind 8400 Stellen offen. Auch Elektromonteure sind rar: Schweizweit waren 4000 Stellen ausgeschrieben. Schreiner, Sanitärinstallateure, Zimmerleute und Maurer finden sich unter den 25 Jobs, die am meisten ausgeschrieben sind.

(Tages-Anzeiger, 5. April 2019)

Kein Wunder, sind in diesen Branchen so viele Stellen unbesetzt. Was ist das Gemeinsame von Bauarbeitern, Pflegefachleuten und Hotelangestellten? Sie alle erbringen eine überdurchschnittlich harte Arbeitsleistung bei gleichzeitig vergleichsweise tiefen Löhnen. Wer kann, strebt zu «Höherem» – zu beruflichen Tätigkeiten, die bei weniger harten Arbeitsbedingungen dennoch ein höheres Einkommen versprechen und erst noch ein höheres gesellschaftliches Ansehen. Vermutlich wird sich diese Entwicklung zukünftig weiter verschärfen und der Fachkräftemangel in zahlreichen Berufsgruppen weiter zunehmen – bis das ganze Haus, in dem alle nach den Sonnenplätzen auf der Dachterrasse streben, eines Tages in sich zusammenfällt, weil das Fundament, auf dem alles aufgebaut wurde, zu brüchig geworden ist. Doch dann ist es zu spät. Schon jetzt müsste alles unternommen werden, um dies zu verhindern. Erstens durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, indem man zum Beispiel die Arbeitszeiten bei besonders belastenden Berufsgruppen den tatsächlichen physischen und psychischen Belastungen anpassen würde – so dass dann zum Beispiel eine Krankenpflegerin weniger lange arbeiten müsste als ein Bankangestellter, usw. Zweitens, indem die Betriebe mehr Personal als bisher anstellen, damit sich die Arbeitsbelastung auf mehr Köpfe und Hände verteilt. Drittens, indem man einen Einheitslohn einführen würde, denn es ist nicht einzusehen, weshalb jene, die am Fundament des Hauses bauen, weniger verdienen sollen als jene, die sich auf der Dachterrasse des Hauses sonnen.