Archiv des Autors: Peter Sutter

KI: Am Gängelband der Algorithmen

Meistens ist das, was einem als künstliche Intelligenz vorgesetzt wird, nicht intelligent, sondern höchstens künstlich. Heute existiert noch kein Computer, kein Roboter, der wirklich intelligent ist. Was heute als KI angepriesen wird, ist meistens etwas ganz anderes: Programme, die automatisiert entscheiden. Wir sind schon umgeben davon, auch wenn wir es selten wahrnehmen. Wer zum Beispiel im Internet einen Flug oder ein Hotel bucht, weiss, dass man unterschiedliche Preise erhält, je nachdem, wo und wann man bucht. Das personalisierte Business geht aber noch viel weiter. Die Algorithmen sind so gebaut, dass sie uns in bestimmte Gruppen einteilen können. Um uns am Ende ins Töpfchen der guten oder der schlechten Kunden zu stecken. Die Guten kommen, wenn sie zum Beispiel im Callcenter anrufen, sofort dran und werden freundlich umsorgt. Die Schlechten landen immer wieder in der Warteschlaufe. Es gibt im Netz auch schon individualisierte Preise. Die Firmen versuchen herauszufinden, welche Kunden bereit sind, viel zu zahlen – um bei denen höhere Preise zu verlangen als bei den anderen. Wohnt eine Person in einer guten Gegend, nutzt ein Apple-Gerät und besucht im Netz oft Webseiten, die teure Produkte anbieten, dann gehört sie mit allergrösster Wahrscheinlichkeit zur Gruppe mit hoher Zahlungsbereitschaft. Sie sind die Goldadern, die die Firmen der Zukunft finden wollen. Das taube Gestein mit den vielen schlechten Kunden möchten sie meiden, die kosten nur und bringen kein Geld. Die Betriebswirtschaftslehre nennt das «Costumer Lifetime Value». Wir alle werden früher oder später einen digitalen Kundenwert haben. Selbst die, die selten im Netz sind. Keine Spur zu haben, gibt auch einen Wert… In Deutschland überlegen sich private Krankenkassen heute schon, ob sie vergünstigte Versicherungstarife anbieten, wenn Kunden Gesundheitsapps verwenden. Wer keine App verwendet, kommt nicht mehr rein oder zahlt viel mehr. Wer sie verwendet, weiss nicht, ob die Daten einmal gegen ihn verwendet werden, weil die Kasse sieht, dass er ein Kostenrisiko werden könnte. Die Kasse hebt vielleicht den Versicherungstarif an oder wirft ihn raus. Das passiert nicht nachvollziehbar, da die Algorithmen, die entscheiden, nicht offengelegt werden.

(Susan Boos, in «W&O», 25. April 2019)

Wir wundern uns über die Überwachungssysteme, mit denen die chinesische Regierung ihre Bürgerinnen und Bürger rund um die Uhr kontrolliert und ihnen je nach ihrem Wohlverhalten Privilegien zubilligt oder verwehrt. Aber sind wir nicht selber auf dem besten Weg zu einer ganz ähnlichen Überwachungsmaschinerie, nur dass bei uns die Macht nicht beim Staat, sondern bei den Algorithmen liegt, die ebenfalls permanent unser Wohlverhalten überwachen? So ist es immer: Den Balken im eigenen Auge sieht man nicht. Und genau so funktioniert der Kapitalismus und durchdringt immer mehr Lebensbereiche: Er umgibt uns so, wie die Luft die Vögel umgibt und das Wasser die Fische. Wir sehen ihn nicht, wir spüren ihn nicht und doch ist er allgegenwärtig. Mitten im Wald sehen wir auch nur die einzelnen Bäume, nie aber den Wald als ganzen – und können uns eine Welt ausserhalb dieses Waldes schon fast nicht mehr vorstellen.

«Aus einer anderen Tasche genommen»

In drei Wochen wird im Kanton Bern darüber abgestimmt, ob die Sozialhilfebeiträge von derzeit 980 Franken pro Einzelperson und 2110 Franken für eine vierköpfige Familie um 8 Prozent auf 907 bzw. 1941 Franken gekürzt werden sollen. Mit diesem Geld müssen die Ausgaben für Lebensmittel, Kleider, Kommunikation und Körperpflege bestritten werden. Betroffene klagen, dass sie schon mit den heutigen Beiträgen kaum zurecht kämen und nicht selten während der letzten Woche des Monats nicht einmal für Lebensmittel etwas übrig bleibe, geschweige denn für irgendwelche Vergnügungen oder Extras. An vorderster Front kämpft Pierre Alain Schnegg von der SVP, Millionär und Berner Regierungsrat, für die Kürzung der Sozialhilfegelder. Es sei richtig, sagt er, dass der Staat in Notsituationen helfe, aber alles müsse massvoll sein. Wer vom Staat lebe, müsse halt auch auf gewisse Dinge verzichten. Im Vergleich mit gewissen Niedriglohnempfängern gehe es den Sozialhilfebezügern viel zu gut, und das sei ungerecht. Auch dürfe man nicht vergessen, dass alles, was der Staat bezahle, «aus einer anderen Tasche genommen» sei.

(Schweizer Fernsehen, «Rundschau», 24. April 2019)

Sozialhilfegeld sei «aus einer anderen Tasche genommen». Das sagt einer, der selber Millionär ist und eigentlich wissen müsste, dass so viel Geld in den Händen der Reichen nur deshalb zustande kommt, weil es in den Händen der Armen so schmerzlich fehlt – ein bisschen Nachhilfeunterricht in Ökonomie täte Herrn Schnegg wohl gut. Vielleicht würde er auch, wenn er seinen eigenen Speisezettel mit dem eines Sozialhilfebezügers vergleicht, nicht mehr davon reden, dass eine Reduktion der Sozialhilfe um 8 Prozent etwas «Massvolles» sei und dass, wer vom Staat lebe, eben auch auf gewisse Dinge verzichten müsste. Und ganz bestimmt käme er auch nicht mehr auf die verrückte Idee, Sozialhilfebezüger mit Tiefstlohnempfängern zu vergleichen und den Schluss zu ziehen, es sei ungerecht, wenn Sozialhilfebezüger mehr Geld zur Verfügung hätten als gewisse Tiefstlohnempfänger, wie wenn man eine Ungerechtigkeit mit einer anderen aufrechnen könnte, statt alle beide zu beseitigen.

Kritisches Denken auf den kapitalistischen Chefetagen angekommen

Kaum eine Bank steht mehr im Zentrum des weltweiten Kapitalismus als J.P. Morgan Chase. Umso bemerkenswerter, was ihr gegenwärtiger Präsident und Konzernchef Jamie Dimon, unlängst verlauten liess: Es gälte, dem kapitalistischen System wieder mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Kurzfristige Eigeninteressen seien im Interesse das Ganzen zurückzustellen, denn alle seien zu egoistisch geworden. Für die Reichen, zu denen auch er gehört, fordert Dimon sogar höhere Steuern. Und weiter: Auch andere Unternehmensverantwortliche könnten sich nicht mehr um gesellschaftliche Probleme foutieren.

(Tages-Anzeiger, 24. April 2019)

Etwas ist im Fluss. Nicht nur bei Jamie Dimon, auch bei den jungen Amerikanern und Amerikanerinnen quer durch alle sozialen Schichten. Sahen im Jahre 2010 noch 68 Prozent der 18- bis 29Jährigen gemäss einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup den Kapitalismus in positivem Licht, waren es 2018 nur noch 45 Prozent. Leute wie Jamie Dimon scheinen nach und nach die Zeichen der Zeit zu erkennen. Das gibt viel Hoffnung. Nämlich, dass die Profiteure und die Opfer des kapitalistischen Systems nicht in einem «Klassenkampf», der schon bald in Gewalt und Zerstörung ausarten könnte, sondern im gegenseitigen Dialog gemeinsam eine neue Wirtschaftsordnung aufbauen. Dazu müssten, wie Dimon richtig sagt, «alle ihre kurzfristigen Eigeninteressen im Interesse des Ganzen zurückstellen.» Oder, wie es der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt einst formulierte: «Was alle angeht, können nur alle lösen.»

Ein Komiker wird Präsident der Ukraine

Der Multimillionär, Schauspieler und Komiker Wolodomir Selenski gewann nach vorläufigen Wahlergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine rund 73 Prozent der Stimmen. Amtsinhaber Petro Poroschenko kam auf nur 24 Prozent und räumte noch am Wahlabend seine Niederlage ein.

(Tages-Anzeiger, 23. April 2019)

Dass Selenski, praktisch ohne politische Aussagen zu machen und bloss aufgrund seiner Popularität als Schauspieler und in den sozialen Medien, einen so hohen Wahlsieg feiern konnte, sagt einiges aus über die Demokratie in einem kapitalistischen Land. Das, was die Menschen wirklich belastet – der sinkende Lebensstandard, die ungenügenden Sozialleistungen, die sich immer mehr verschärfende Kluft zwischen Arm und Reich – können weder Poroschenko noch Selenski aus der Welt schaffen: In einer Welt, wo das Geld regiert und es «normal» geworden ist, dass jeder den andern übers Ohr harrt, in einer solchen kapitalistischen Welt verkommen politische Figuren je länger je mehr zu blossen Karikaturen ihrer selbst, ebenso gut könnte man ihr Konterfei aus Pappkarton ausschneiden und auf die Stühle in den Parlamenten und Regierungen setzen. Und so werden wohl all die Hoffnungen, die sich mit der Wahl Selenskis verbunden haben, leider trügerisch bleiben. Hierfür bräuchte es schon eine radikal neue Bewegung aus der Basis der Bevölkerung heraus, mit einem antikapitalistischen Programm, das mit den bestehenden Machtverhältnissen nichts, aber auch gar nichts am Hut hat. Und diese Bewegung müsste eine grenzüberschreitende, globale Bewegung sein. Denn wenn nur ein einzelnes Land aus dem kapitalistischen System aussteigt, würde dies wahrscheinlich sehr schnell seinen wirtschaftlichen Untergang bedeuten. Indes wären die Mehrheiten hierfür wohl schon bald in allen Ländern der Erde vorhanden. Denn das Leiden unter dem Kapitalismus wird naturgemäss immer stärker. Das Holz ist gerichtet. Es braucht nur noch den Funken, der es anzündet…

«Naked Survival»: Der Einschaltquote zuliebe das Leben aufs Spiel setzen

In der Serie «Naked Survival», ausgestrahlt vom privaten TV-Sender «5+», werden jeweils ein Mann und eine Frau nackt an einem verlassenen Ort (z. B. Urwald) irgendwo auf der Welt ausgesetzt. Um 21 Tage lang zu überleben, müssen sie mit den Mitteln der Natur Trinkwasser und Nahrung besorgen sowie einen Unterschlupf bauen und Feuer machen. Am letzten Tag müssen sie mehrere Kilometer zu einem Abholpunkt marschieren. Beide Teilnehmer bekommen eine Umhängetasche mit einer groben Karte und einem persönlichen, hilfreichen Gegenstand. Außerdem haben sie ein drahtloses Mikrofon als Halskette und ein Handfunkgerät, um im Notfall die in Reichweite befindlichen Produzenten zu kontaktieren. Die Strapazen sind unbeschreiblich, von Schnittwunden am Körper und an den Füssen über brennende Hautauschläge am ganzen Körper bis hin zu Erfrierungen, wenn die Temperatur zur Regenzeit von einem Tag auf den andern von über 30 auf vier bis fünf Grad fällt. Nicht zu reden von der beständigen Angst vor giftigen Tieren und dem zermürbenden Hunger, wenn über Tage nichts zu essen gefunden wird – die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen nehmen denn auch im Verlaufe der 21 Tage, wenn sie es überhaupt durchhalten, bis zu zehn Kilogramm ab. Nicht selten muss das Experiment abgebrochen werden, meist aus medizinischen Gründen, wegen Erschöpfung oder akuten Erkrankungen. Vereinzelt zwingt auch das Wetter zum Abbruch.

Verrückter geht es wohl kaum mehr. Und doch wird sich wohl über kurz oder lang ein anderer privater TV-Sender noch etwas Verrückteres einfallen lassen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis «Naked Survival» oder ähnliche Formate ein erstes Todesopfer zu beklagen haben. Und dies nur wegen der Einschaltquote, befinden sich doch die privaten TV-Sender in einem permanenten gegenseitig Konkurrenz- und Verdrängungskampf, und wie anders soll man das Publikum anlocken wenn nicht durch immer extreme Sensationen. Das ist Kapitalismus pur. Es geht nicht mehr darum, gut zu sein. Es geht darum, besser zu sein als andere – und zwar nicht besser durch eine höhere Qualität, sondern besser dadurch, dass man ein möglichst zahlreiches Publikum anzulocken vermag.

In einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung gibt es keine privaten TV-Sender. Jedes Land verfügt über mehrere rechtlich-öffentliche Sender, die sich nicht konkurrenzieren, indem sie sich gegenseitig immer ähnlicher werden, sondern die sich im Gegenteil gegenseitig ergänzen, indem sie möglichst verschieden sind und ein möglichst unterschiedliches Publikum ansprechen – wie dies beispielsweise in der Schweiz mit den Sendern SRF1, SRF2 und SRFinfo der Fall ist und in Deutschland mit der ARD und dem ZDF.

Das wahre Gesicht des Kapitalismus

«Es gibt Fälle, in denen Arbeitgeber Schwarzarbeiter je nach Gang der Geschäfte entlöhnen. An einem Tag zahlen sie ihnen 100 Franken, an einem anderen 50 Franken und an einem dritten gar nichts.» Das Zitat stammt nicht aus irgendeinem Drittweltland, sondern aus – dem kapitalistischen Musterland Schweiz! Und zwar von Stefan Oberlin, Sprecher der Zürcher Kantonspolizei. Tatsächlich haben die Verzeigungen wegen Beschäftigung von Ausländern ohne Bewilligung gemäss der soeben erschienenen Kriminalstatistik des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Beim «Ausüben einer nicht bewilligten Erwerbstätigkeit», also beim eigentlichen Schwarzarbeiten, betrug die Zunahme zwischen 2009 und 2018 mehr als zwanzig Prozent, bei der Beschäftigung von Schwarzarbeitern sogar mehr als 60 Prozent. Laurent Paoliello vom Departement für Sicherheit, Arbeit und Gesundheit des Kantons Genf weiss von Schwarzarbeiterinnen und -arbeitern, die 60-70 Stunden pro Woche arbeiteten und dafür 450 Franken erhielten. Das ergibt einen Stundenlohn von knapp 7 Franken. Und Serge Gnos von der Gewerkschaft Unia sagt: «Wir haben Kenntnis von Fällen, in denen Arbeiter unter hundslausigen Verhältnissen arbeiten und wohnen. Und für diese Bruchbuden müssen die Arbeiter den Arbeitgebern erst noch völlig überteuerte Mieten zahlen.»

(NZZ am Sonntag, 21. April 2019)

Hier, im rechtsfreien Raum, zeigt der Kapitalismus sein wahres Gesicht. Hätte man ihn nicht mit Gesetzen und Vorschriften gezügelt, würde er auch heute noch hierzulande so unerbittlich wüten wie im 19. Jahrhundert. Man hätte immer noch wöchentliche Arbeitszeiten von 100 Stunden, die Sechs- oder Siebentagewoche, Hungerlöhne und keine Existenzsicherung im Alter, bei Unfällen oder Krankheit. Wenn sich der Kapitalismus als «menschenfreundliche Wirtschaftsordnung» zu verkaufen versucht, so schmückt er sich dabei mit fremden Federn, den Federn der linken politischen Kräfte und der Gewerkschaften, die in jahrzehntelangem Kampf dem Kapitalismus sein vermeintliches so menschenfreundliches Antlitz verpasst haben…

Der Zins – des einen Fluch, des anderen Segen

Während der Zins des einen finanzieller Fluch, ist er des anderen finanzieller Segen. Wer ihn zu seinem Vorteil nutzt und damit seinen Vermögensaufbau betreibt, steht auf der finanziellen Sonnenseite des Lebens. Wer sich jedoch verschuldet, kann schnell in die Schuldenfalle gesogen werden. Das exponentielle Wachstum der Vermögen (durch Zins und Zinseszins) auf der einen Seite muss also auf der Gegenseite exponentiell wachsende Schulden (und damit auch Zinseslasten) hervortreiben. Diese müssen von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, den Habenichtsen, erarbeitet werden. Somit ist die Akkumulation von Zins und Zinseszins die Hauptursache der sich beschleunigenden, auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die eingepreisten Zinsabgaben in Produkten und Dienstleistungen. Diejenigen, die sich über ihre Zinserträge auf einem Sparbuch oder aus Aktien freuen, übersehen die in den Preisen verdeckten Zinsabgaben völlig. Diese Abgaben liegen aber im Durchschnitt bei 35 Prozent. Das heisst, dass etwa ein Drittel des Produktpreises aus zinsbedingten Kapitalansprüchen besteht. Mit anderen Worten: Jeder dritte Euro, den wir beim Einkaufen ausgeben, fliesst direkt oder indirekt in Zinsen. Damit gehört die Mehrheit der Menschen ganz eindeutig zu den Verlierern des Systems. Erst ab einem Anlagevermögen von ca. 500’000 Euro beginnt sich das Blatt zu wenden. Dann übersteigen die jährlichen Zinseinnahmen langsam die direkten als auch indirekten (versteckten) Zinsausgaben. Zu diesen Glücklichen zählt jedoch weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Der grosse Rest muss diese Zinsabgaben, direkt oder indirekt, erbringen – ohne Zinseinnahmen auf der anderen Seite. Jährlich findet so allein in Deutschland eine zinsbedingte Umverteilung von Arm zu Reich von mehr als 400 Milliarden Euro statt.

(Dominik Mikulaschek, «Du wist die Welt verändern?»)

Deshalb ist die Forderung, man müsse, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, die «Armut bekämpfen», nichts als hohles Gerede. Man kann, um Gerechtigkeit zu schaffen, die Armut nur dann wirksam bekämpfen, wenn man gleichzeitig auch den Reichtum ebenso vehement bekämpft. Armut und Reichtum sind die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Medaille, untrennbar miteinander verbunden durch Zins und Zinseszins, der die grosse Mehrheit der Bevölkerung zu Sklaven macht einer kleinen Minderheit, die, hat sie erst einmal genug Geld zusammengescheffelt, nun einfach die Hände in den Schoss legen kann, um das Geld – beziehungsweise die anderen Menschen – für sich arbeiten zu lassen. Wir kommen daher, wenn wir eine gerechte Gesellschaft schaffen wollen, nicht darum herum, den Zins abzuschaffen. Der Besitz von Geld darf nicht mehr dazu führen, dass man ab einer gewissen Summe selber nicht mehr arbeiten muss und die Arbeit einfach an andere delegieren kann. Das Geld muss wieder das sein, was es einmal war: ein reines Tauschmittel auf dem Markt gleichberechtigter Produzenten und Konsumenten, ohne sich auf wundersame Weise selber zu vermehren oder dem, der es im Übermass besitzt, Macht zu verleihen über andere.

Tödliche kapitalistische Arbeitswelt

Rund 374 Millionen Menschen werden nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit jedes Jahr durch die Arbeit krank oder verletzen sich bei Arbeitsunfällen. Jeden Tag sterben nach Schätzungen 6500 Menschen an Krankheiten, die durch ihre Arbeit verursacht wurden, und 1000 Menschen kommen bei Arbeitsunfällen um. Das sind insgesamt fast zwanzig Mal mehr, als durch kriegerische Konflikte weltweit ums Leben kommen! Wachsende Herausforderungen seien Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, Krebs sowie Stress und psychosoziale Risiken, so die ILO. Das gehe unter anderem auf befristete Arbeitsverträge zurück, auf Arbeitgeber-Forderungen nach mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und zunehmende Tele- oder Heimarbeit.

(Wirtschaftregional, 20. April 2019)

Wenn die freie Marktwirtschaft – der Kapitalismus – so segensreich wäre, wie seine Befürworter behaupten, dann würden wohl nicht jedes Jahr weltweit 374 Millionen Menschen infolge von Überarbeitung krank. Der immense – und laufend noch wachsende – Druck am Arbeitsplatz ist die Folge des kapitalistischen Konkurrenzprinzips, wonach der einzelne Arbeiter, die einzelne Arbeiterin, wie auch die jeweiligen Firmen in einem immer härteren gegenseitigen Wettkampf stehen. In einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung dagegen gäbe es keinen gegenseitigen Konkurrenzkampf, weder zwischen den Firmen noch zwischen den Arbeitnehmenden. Die Firmen würden nur gerade dus und so viel produzieren, was die Menschen auch tatsächlich brauchen, nicht mehr und nicht weniger, und zwar weltweit. Das Verhältnis zwischen den Firmen wie auch zwischen den Arbeitnehmenden wäre nicht mehr durch Wettbewerb und Konkurrenzkampf geprägt, sondern durch Kooperation und Gemeinwohl. Es wäre eine Wirtschaft im Dienste der Menschen, in der niemand mehr durch Arbeit krank würde, sondern im Gegenteil die Arbeit Teil eines ganzheitlichen, sinnerfüllten, gesunden Lebens wäre, in welchem die Menschen ihre besten Kräfte und Begabungen verwirklichen könnten.

Freiheit für alle statt Privilegien für wenige

«Ich engagiere mich in der Klimastreikbewegung aus purer Freude am Leben. Ich denke, uns ist allen ein Drang inne, nach Freiheit zu streben. Diese können wir aber nicht erreichen ohne die Freiheit unserer Mitmenschen, aller Tiere und der Umwelt.»

(Jonas Kampus, 17jähriger Klimaaktivist, in der SP-Zeitschrift «links» vom April 2019)

Gegner von Regeln und Vorschriften oder gar Verboten zum Schutz des Klimas argumentieren oft mit dem Begriff «Freiheit»: Solche Einschränkungen, sagen sie, würden die Freiheit des Einzelnen einschränken. Die Freiheit, sich mit dem Auto frei und ungehindert zu bewegen. Die Freiheit, mit dem Flugzeug an jeden beliebigen Ort rund um den Erdball zu reisen. Die Freiheit, alles, was man sich wünscht, möglichst schnell und billig kaufen zu können. Die Freiheit, in beliebiger Menge Fleisch zu essen. Doch in globaler Sicht handelt es sich bei alledem nicht um echte Freiheiten, sondern bloss um Privilegien, die sich die einen leisten können, weil sie sich andere nicht leisten können. Würden nämlich sämtliche Erdbewohner und Erdbewohnerinnen so viel Auto fahren, so viel mit dem Flugzeug reisen, so viel konsumieren und so viel Fleisch essen wie die Schweizerinnen und Schweizer, dann wäre die Umwelt schon längst kollabiert. Der Klimaaktivist Jonas bringt es auf den Punkt: Wenn er freitags oder samstags auf die Strasse geht, dann aus Freiheitsliebe – aus Liebe zu einer Freiheit, an der alle ihren gerechten Anteil haben, alle Menschen in allen Ländern der Erde, alle Lebewesen, die Natur, die Erde und alle zukünftigen, noch nicht geborenen Generationen.

Dinge wichtiger als Menschen

Nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris richten sich die Blicke bereits auf den Wiederaufbau des berühmten Kirchenbaus. Präsident Macron rief zu Spenden auf, um die Wiederherstellung der gotischen Kirche zu finanzieren. Spendenzusagen folgten prompt: Der Server der französischen Stiftung für Kulturerbe, auf dem für Notre-Dame gespendet werden kann, brach zeitweise zusammen. Die Milliardäre François Pinault und Bernard Arnault, beide Eigner von Luxusgüterkonzernen, die Kosmetik-Dynastie Bettencourt sowie der Ölkonzern Total sagten Spenden von insgesamt 600 Millionen Euro zu.

(Tages-Anzeiger, 17. April 2019)

Laut einer neuesten Umfrage haben 21 Prozent der französischen Bevölkerung zu wenig Geld, um sich drei Mahlzeiten pro Tag leisten zu können. Hunderttausende von Kindern kommen ohne Frühstück in die Schule. 41 Prozent haben Schwierigkeiten, einmal pro Jahr in den Urlaub zu fahren. 14 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Zwischen 3000 und 4000 Pariserinnen und Pariser haben kein Dach über dem Kopf und nächtigen auf der Strasse. Ob sich wohl François Pinault, Bernard Arnault, die Dynastie Bettencourt und der Ölkonzern Total auch schon mal Gedanken darüber gemacht haben, für die notleidende Bevölkerung Frankreichs 600 Millionen Euro zu spenden? Wohl kaum. Offensichtlich sind ihnen Dinge wichtiger als Menschen…