Archiv des Autors: Peter Sutter

Bolton, Albright & Co.

Je länger der Irakkrieg dauerte, desto mehr erwies er sich als Desaster. Er verschlang Hunderte von Milliarden Dollar, kostete Tausende von Soldaten und Zehntausende von Zivilisten das Leben, liess die Terrororganisation al-Kaida erblühen, ruinierte das moralische Ansehen der USA in der arabischen Welt und brachte den Irak unter den Einfluss von Iran. Wesentlich Anteil daran, dass George W. Bush in den Irak zog, hatte eine Gruppe hochgebildeter Intellektueller, die Neokonservative oder Neocons genannt wurden. Zu ihnen gehörte unter anderen der heutige Nationale Sicherheitsberater John Bolton, aktuell wiederum einer der heftigsten Kriegstreiber im USA-Iran-Konflikt, allen katastrophalen Auswirkungen des Irakkriegs zum Trotz.

(NZZ am Sonntag, 19. Mai 2019)

Das soll mir einmal jemand erklären: «Hochgebildete Intellektuelle», die aufgrund massloser Übertreibungen, Unterstellungen, bewussten Falschinformationen und Lügen einen Krieg anzetteln, dem Zehntausende Unschuldige zum Opfer fallen – und die dann 16 Jahre später, als wäre nichts geschehen, nichts Gescheiteres wissen, als unter ganz ähnlichen Begleitumständen erneut einen Krieg vom Zaun zu reissen. In einer anderen Welt würde man sie nicht Intellektuelle und Hochbegabte nennen, sondern Massenmörder, und sie wären schon längst hinter Schloss und Riegel. In der kapitalistischen Welt aller gestörter Sinneswahrnehmung aber laufen sie immer noch frei herum und sind drauf und dran, erneut den nur erdenklich grössten Schaden anzurichten. Dabei sind Bolton & Co. längst nicht die Einzigen. Auch Madeleine Albright, die frühere US-Aussenministerin, läuft immer noch frei herum. Albright ist für den Tod einer halben Million irakischer Kinder als Folge der 1991 – 2003 von den USA verhängten Sanktionen verantwortlich. Albright ist immer noch eine gefragte Referentin an internationalen Wirtschaftskonferenzen und führt ein renommiertes Unternehmen, das Politik- und Strategieberatung anbietet. Niemand scheint sich mehr daran zu erinnern, dass sie, angesprochen auf die halbe Million toter Kinder, sagte: «Ja, es hat sich gelohnt. Gemessen am Ziel, das wir damit erreicht haben, war es die Mühe wert.»

Die kapitalistische Warenwelt hat uns den Kopf verdreht

Eigentlich dürften auf Grund der geltenden Gesetzgebung – gemäss der 1994 vom Schweizer Volk angenommenen «Alpeninitiative» – nur jährlich 650’000 Lastwagen die Schweizer Alpen queren. Tatsächlich aber sind es 941’000. Um diese Zahl zu senken, schlägt Bundesrätin Simonetta Sommaruga folgende Massnahmen vor: «Erstens sollen die Trassenpreise – also die Gebühren für die Benutzung der Schienen – weiter sinken. Zweitens soll es einen Rabatt für lange Güterzüge geben, das fördert die Effizienz. Und drittens sollen die Transporteure im kombinierten Verkehr, die Güter von der Strasse auf die Schiene umladen, weiterhin Beiträge für einen kostendeckenden Betrieb erhalten.»

(W&O, 18. Mai 2019)

Massnahmen, die zu einer gewissen Umlagerung von der Strasse auf die Schiene führen könnten. Aber weshalb stellt denn eigentlich niemand die Frage, weshalb so viele Fahrten überhaupt nötig seien? Ist es sinnvoll, Möbel, die in Schweden oder Finnland gefertigt werden, nach Italien oder Spanien zu transportieren? Ist es sinnvoll, Lebensmittel, die in Italien gefertigt werden, nach Deutschland zur Weiterverarbeitung und anschliessend nach Frankreich zum Verkauf weiter zu transportieren? Ist es sinnvoll, in Italien hergestellte Autos nach Deutschland zu transportieren und in Deutschland hergestellte Autos nach Italien? Die kapitalistische Warenwelt – dort produzieren, wo es am billigsten ist, dort verkaufen, wo man am meisten Profit machen kann – hat uns dermassen den Kopf verdreht, dass uns die absonderlichsten Absurditäten gar nicht mehr besonders aufzufallen oder zu stören scheinen…

China: Vor Erschöpfung am Arbeitsplatz gestorben

996, das steht für neun bis neun Uhr und sechs Tage die Woche – 72 Stunden Arbeit. Das ist für viele Mitarbeitende der chinesischen Technologiefirmen die Schlagzahl. Und für manche ist sie sogar noch höher: In Shenzhen, Peking und Shanghai, den Start-up-Zentren der Volksrepublik, müsste man längst von «9106» sprechen, mit Arbeitszeiten von 9 bis 22 Uhr. Auch der freie Sonntag wird oft zum Arbeiten genutzt… Begonnen hatte die Debatte im Januar, als der Gründer eines E-Commerce-Unternehmens aus Hangzhou unter Pseudonym einen Blogbeitrag veröffentlichte: «Wenn Sie keinen Druck verspüren in ihrem Unternehmen, sollten Sie gehen, da die Firma bald bankrott sein wird.» Gegen dieses 996-Plädoyer formierte sich Protest. Im März startete eine Gruppe von Entwicklern im Netz eine Bewegung unter dem Schlagwort «996. ICU». ICU, das steht für «Intensive Care Unit», weil überarbeitete Beschäftigte auf der Intensivstation des Krankenhauses landen können. Übertrieben ist das nicht, es gab bereits Todesfälle von Angestellten, die vor Erschöpfung am Arbeitsplatz gestorben sind.

(Tages-Anzeiger, 18. Mai 2019)

Früher schickte man die Soldaten aufs Schlachtfeld – heute schicken sie ihre Sportler, ihre Arbeiter, ihre Programmierer in den gegenseitigen globalen Vernichtungsfeldzug. Was für ein Fortschritt…

«Entweder du spielst mit oder du gehst unter.»

Es sind vor allem die Grossverteiler – allen voran Migros und Coop -, die vom Geschäft mit Gemüse aus ökologischem Anbau profitieren. Zusammen sind Coop und Migros eine Marktmacht: Sie verkaufen rund 80 Prozent aller Bioprodukte in der Schweiz. Die zwei Grossverteiler stehen an der Spitze der Wertschöpfungskette. Sie diktieren die Preise, geben Richtlinien vor und bestimmen die Lieferanten. Dann folgt der Zwischenhändler, das Bindeglied zwischen Landwirten und Grossverteiler. Zuunterst in der Hierarchie: die Biobäuerinnen und Biobauern. Für viele von ihnen gerät der Bioboom zum Überlebenskampf. «Das Geschäft ist brutal hart geworden», sagt Gemüsebauer T.. Grossverteiler und Zwischenhändler würden auf den Verkaufspreis drücken. Der Preiszerfall kann am Beispiel der Süsskartoffel aufgezeigt werden. Vor zwei Jahren haben Produzenten pro Kilo noch 5 Franken erhalten. Danach sank der Preis auf 4.50 Franken, und seit letztem September erhalten die Bauern noch 3.20 Franken. Damit müssen sie sämtliche Kosten decken: Saatgut, Biodünger, Maschinen- und Arbeitskosten. T. spricht von einem Nullsummenspiel… Der Landesindex der Produzentenpreise für landwirtschaftliche Produkte ist zuletzt um 2 Prozent gesunken, während die Konsumentenpreise für Frischgemüse um fast fünf Prozent gestiegen sind. Das heisst, der Bauer verdient im Schnitt weniger, während sich die Margen der Grossverteiler vergrössern… Der Zürcher Bauernverband (ZBV) hat die Gewinnverteilung auf Produzenten und Grossverteiler für verschiedene Produkte analysiert. Das Resultat ist für die Landwirte ernüchternd. Bei der Kartoffel sei der Gewinn des Grossverteilers fünfmal höher als beim Produzenten. Bei Eiern verdienen Migros und Coop das 9-Fache, bei Äpfeln gar das 28-Fache. «Die oben in der Verwertungskette», so ZBV-Geschäftsführer Ferdi Hodel, «nehmen sich so viel raus wie möglich. Die Landwirte sind als Produzenten lediglich Restgeldempfänger.» Die Landwirte würden das volle Risiko für Produktion und allfällige Ernteausfälle tragen. Der Grossverteiler bekomme die Ware fertig geliefert und müsse sie nur noch vermarkten… Bauer T. steht unter Druck. Der letztjährige Hitzesommer verursachte hohe Mehrkosten. 1500 Franken zahlte er für Wasser, das er aus dem Hydranten bezog – pro Hektare. «Hätte meine Frau keine Arbeit ausserhalb des Hofs, würden wir nicht durchkommen», sagt T. Die Abhängigkeit vom Grossverteiler sei gross, andere Absatzkanäle könnten das Geschäft nicht ersetzen. «Entweder du spielst mit«, sagt T., «oder du gehst unter.»

(Tages-Anzeiger, 17. Mai 2019)

Verkehrte – kapitalistische – Welt. Und überall – vom Handwerker über die Fabriken bis zur Landwirtschaft – das Gleiche: Wer die elementare Arbeit verrichtet, ohne welche der gesamte «Überbau», die gesamte Wertschöpfungskette von der Vermarktung bis zum Verkauf der Produkte gar nicht möglich wäre, muss sich mit dem geringsten Teil der Entlöhnung, den unwirtlichsten Arbeitsbedingungen und dem grössten Risiko abfinden – während auf den oberen Rängen der Macht- und Ausbeutungspyramide immer grössere Profite abgeschöpft werden. Eigentlich müsste man alles Bisherige auf den Kopf stellen und die Macht denen zurückgeben, welche das Fundament des ganzen goldenen Gebäudes in täglicher Plackerei errichten. Oder sie alle müssten nur für zwei, drei Tage in einen landesweiten Streik treten. Wetten, dass die leeren Gestelle in den Supermärkten dann so einiges an gesellschaftlicher Bewegung auslösen würden…

Lysistrata, Bertha von Suttner und Viola Amherd

Die Schweizer Bundesrätin Viola Amherd, erste Frau an der Spitze des eidgenössischen Militärdepartements, hat in ihrer neuen Tätigkeit bereits einige Akzente gesetzt. Insbesondere fordert sie eine separate, nicht mit anderen Vorlagen verknüpfte Volksabstimmung über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge. Zudem plädiert sie für eine massive Steigerung der gesamten Rüstungsausgaben im Umfang von 15 Milliarden Franken. So viel Geld hat noch kein Verteidigungsminister in der Schweizer Geschichte budgetiert.

(www.srf.ch)

Dass Viola Amherd als erste Frau das Militärdepartment übernahm, wurde als grosser Erfolg für die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz gefeiert. Doch damit sollten wir uns auf keinen Fall zufrieden geben. Denn wenn diese Frau einfach die Politik ihrer männlichen Vorgänger weiterführt und diese sogar noch auf die Spitze treibt, dann hätten wir ja genau so gut einen Mann in dieses Amt wählen können…

Lysistrata, die «Heeresauflöserin», lehnt sich in der 411 v. Chr. erstmals aufgeführten gleichnamigen Komödie von Aristophanes gegen den Peloponnesischen Krieg auf, der zu diesem Zeitpunkt bereits 20 Jahre andauert. Wütend über die Männer als Verursacher von Krieg und den damit verbundenen Leiden, bringt Lysistrata die Frauen Athens und Spartas dazu, den Frieden zu erzwingen. Unter der Führung Lysistratas besetzen die Frauen die Akropolis und verweigern sich fortan ihren Gatten sexuell. Nach einigen Verwicklungen und Rückfällen führt der Liebesentzug tatsächlich zum Erfolg – der Krieg wird beendet. Genau 2300 Jahre später veröffentlichte die Deutsche Friedensaktivistin Bertha von Suttner den pazifistischen Roman «Die Waffen nieder!», der grosses Aufsehen erregte und Bertha von Suttner zu einer der prominentesten Vertreterinnen der Friedensbewegung machte. Sie beschrieb die Schrecken des Krieges aus der Sicht einer Ehefrau und traf damit den Nerv der Gesellschaft, die zu dieser Zeit in heftigsten Diskussionen über den Militarismus und den Krieg begriffen war. Das Buch erschien in 37 Auflagen und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Marie Eugenie delle Grazie schrieb in ihrem Nachruf auf Bertha von Suttner: «Der Titel dieses Buches steht aber schon heute auf der ersten Seite einer neuen Weltgeschichte!»

Wo ist heute von dieser weiblichen Radikalität noch etwas zu spüren? Weshalb sind wir so brav und so angepasst geworden? Wo und warum ist der Pazifismus auf der Strecke geblieben? Weshalb nehmen an den österlichen Friedensmärschen immer weniger Menschen teil? Wo sind die Zehntausende, die anfangs 2003 auf die Strasse gingen, um gegen den drohenden Irakkrieg zu protestieren, heute, 16 Jahre später, da sich mit dem Konflikt zwischen den USA und dem Iran eine möglicherweise noch viel grössere Katastrophe abzeichnet?

Lysistrata und Bertha von Suttner sind vielleicht die bekanntesten, aber längst nicht die einzigen Frauen der Geschichte, die sich gegen die Sinnlosigkeit von Kriegen engagierten. Diese Tradition hat leider mit der neuen Schweizer Bundesrätin keine Fortsetzung gefunden. Schade. Wieder einmal hat das herrschende Machtsystem eine potenzielle Widersacherin verschluckt und sogar zu einer seiner vehementesten Wortführerinnen gemacht. Wie geht es nun weiter? Was bringt den lange ersehnten Zeitenwandel? Welches sind die Forderungen des Frauenstreiktags vom 14. Juni? Streben auch die Frauen Machtpositionen nur deshalb an, um es den Männer gleichzutun? Oder besteht die Hoffnung weiter, sie würden diese Machtpositionen anstreben, um schliesslich die Macht als solche zu überwinden?

 

Die SBB und die neuen Hochgeschwindigkeitszüge: «Schon fast auf einem Nullniveau»

Defekte Kabelverbindungen. Mangelhafter Zustand von Treppen. Teile, die ungeschützt herumliegen. Fehlender Abstand zwischen Kabeln. Verbleichte Sitze. Fehlende Lüftungskanäle. Lose Schrauben. Fehlende Abdeckungen. Nicht funktionierende Türen. Gebrochenes Glas. Kaputte Elektronik durch Wasserschäden. Eine Tür, die bei einer Hochgeschwindigkeitstestfahrt in Osteuropa weggerissen und 700 Meter weit fortgeschleudert wurde. Und das ist noch längst nicht die ganze Mängelliste bei den von Bombardier für die SBB hergestellten FV-Dosto-Doppelstockzüge. Das komme eben nicht zuletzt daher, so der deutsche Bahnexperte Hans Leister, dass anstelle einer ausreichenden Stammbelegschaft bei Bombardier viele Leiharbeiter angestellt seien. «Und wie man das auch von Baustellen kennt: Die einen machen das kaputt, was die anderen gebaut haben.» Das bestätigt auch ein Mitarbeiter: «Die Qualität lässt zu wünschen übrig, die Fehler wiederholen sich. Die Arbeiter mit Fachkenntnissen verlassen mehr und mehr das Unternehmen oder werden entlassen. Wir, die noch verbleiben, führen uns zunehmend in unserem Berufsstolz verletzt, möchten wir doch nur beste Arbeit leisten, was aber unter diesen Bedingungen gar nicht mehr möglich ist.» Andere Mitarbeiter berichten, dass beispielsweise die unsachgemässe Materialbehandlung dazu führen könne, dass die Fahrzeuge schon nach kurzer Zeit rosteten. Schrauben würden von Hand angezogen, was zur Folge haben könne, dass sie sich später zu lösen drohten. Nicht einmal das notwendige Werkzeug werde zur Verfügung gestellt, die Arbeiter müssten zum Beispiel Bohrer, Schraubenzieher und Drehmomentschlüssel von zuhause mitbringen. «Wie», fragt sich ein Mitarbeiter, «kannst du motiviert bleiben, wenn du nicht weisst, ob du nächste Woche noch hier arbeitest oder nicht. Das Wissen nimmt immer weiter ab, sodass wir uns heute fast auf einem Nullniveau befinden. Auf lange Sicht wird es zu Sicherheitsproblemen kommen.»

(Rundschau, Schweizer Fernsehen SRF1, 15. Mai 2019)

Irgendwann musste es ja soweit kommen: Oben werden die Ansprüche immer mehr in die Höhe geschraubt – die neuen Hochgeschwindigkeitszüge sollen an technischer Leistung und an Komfort alles Bisherige übertreffen – und unten windet man die Arbeiter bis zum Geht-nicht-mehr aus, ersetzt langjährige Fachkräfte durch temporär Arbeitende und setzt vorhandenes Fachwissen leichtfertig aufs Spiel. Die Folge: Das grösste Debakel, das die SBB in ihrer 117jährigen Geschichte wohl je erleiden mussten. Doch das scheint die feinen Herren oben an der Spitze nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Chefs von Bombardier finden immer wieder neue Erklärungen für die Mängel der Züge und für die Lieferverzögerungen über mehrere Jahre. Und auch der SBB-Chef Andreas Meyer ist zuversichtlich, dass am Ende alles gut herauskommt, er hat ja auch, mit einem Jahresgehalt von über einer Million Franken, gut lachen…

Es fehlen alternative Denkschulen

«Frauen mischen die Ökonomie auf» und «In den Wirtschaftswissenschaften ist ein Zeitenwandel im Gange» – so kommentiert der «Tages-Anzeiger» den Sachverhalt, dass zum ersten Mal in der Geschichte die drei Posten der Chefökonominnen von IWF (Gita Gopinath), Weltbank (Pinelopi Goldberg) und OECD (Laurence Boone) von Frauen besetzt sind. Zudem hat mit Emi Nakamura eine Frau die wichtigste Auszeichnung der Ökonomen nach dem Nobelpreis gewonnen: die John Bates Clark Medal der US-Ökonomenvereinigung American Economic Association.

(Tages-Anzeiger, 15. Mai 2019)

Das tönt ja alles sehr verheissungsvoll. Aber bedeuten mehr Frauen an den wirtschaftspolitischen Schaltstellen automatisch auch mehr Gerechtigkeit, faireren Handel, ausbeutungsfreie Geld- und Arbeitssysteme, ein kleineres Gefälle zwischen Arm und Reich, ökologische Wirtschaftsformen, die ein Weiterleben der Menschheit auf diesem Planeten auch noch in 50 und 100 Jahren gewähren? Schön wäre es. Doch ist zu befürchten, dass auch noch so profilierte Frauen, wie sie nun in diese Chefpositionen gewählt worden sind, letztlich nur wiederum ein Teil des – kapitalistischen – Machtapparats sein werden. Dies zeigen die Biographien dieser Frauen, die allesamt durch die renommiertesten – kapitalistischen – Denkschulen gegangen sind. Was fehlt, sind nicht in erster Linie Frauen in Chefpositionen. Was fehlt, sind alternative – antikapitalistische – Denkschulen, die in Demokratien mit ihrem Primat des freien Denkens und der freien Meinungsäusserung eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müssten. Dass dem nicht so ist, zeigt den wahren Charakter des Kapitalismus: Er tut so, als herrschte hier totale Freiheit. In Tat und Wahrheit aber herrscht nur eine einzige Freiheit, nämlich die Freiheit des Kapitalismus, sich immer wieder aus sich selber heraus zu reproduzieren. Erst wenn tatsächlich Absolventinnen alternativer Denkschulen an die Schalthebel politischer und wirtschaftlicher Machtstrukturen gelangen werden, können wir sagen, die Ökonomie werden «aufgemischt» und ein «Zeitenwandel» komme in Gang…

137’000 neue Arbeitsplätze durch die 5G-Technologie?

Dank der neuen 5G-Technologie können Arbeitsabläufe optimiert, automatisiert und beschleunigt werden, wie das Beispiel des Baulogistikkonzerns Amberg Longlay mit Sitz in Zürich zeigt: Seine Mitarbeiter nutzen die Technologie mit ihren schnellen Übertragungsgeschwindigkeiten, um auf Baustellen mit digitalen Plänen und computergestützten dreidimensionalen Modellen zu arbeiten. Die Befürworter der neuen Technologie führen ins Feld, dass dadurch bis zum Jahr 2030 ein Produktionszuwachs von 42,2 Milliarden Franken sowie die Schaffung von 137’000 neuen Arbeitsplätzen möglich sein würden. Deshalb warnt zum Beispiel der Dachverband Economiesuisse davor, die Einführung von 5G zu bremsen. Und auch der Verband der Maschinenindustrie befürchtet, dass der Schweizer Werkplatz technologisch ins Hintertreffen geraten und ans Wettbewerbsfähigkeit verlieren könnte.

(Tages-Anzeiger, 14. Mai 2019)

Es ist wie mit der militärischen Aufrüstung. Weil es der andere tut, muss ich es auch tun, um nicht ins «Hintertreffen» zu geraten. Ob es auch sinnvoll ist oder nicht, diese Frage wird schon gar nicht gestellt. Müssen Baustellen zukünftig digital gesteuert werden? Sollen Häuser eines Tages ohne jegliche menschliche Arbeitskraft aus dem D-Drucker entstehen? Brauchen wir selbstfahrende Autos? Soll das Essen im Schnellimbiss zukünftig von Robotern zubereitet werden? Brauchen wir überhaupt noch Blumengärten oder wäre es nicht viel rationeller, rund um unsere Häuser Pflanzen aus Kunststoff zu setzen? Und was ist, wenn die 5G-Technologie erst einmal flächendeckend umgesetzt ist, was kommt darnach und was für weitere «Fortschritte» sind zu erwarten, wenn dann eines Tages 6G, 7G oder 8G vor der Türe stehen? Das Verhalten der russischen Regierung offenbart die ganze Absurdität einer technischen Entwicklung, bei der die Sinnfrage überhaupt keine Rolle mehr spielt, sondern jeder nur schneller, besser und «fortgeschrittener» sein will als der andere: Nach aussen – mit Blick auf Europa und die USA – propagieren russische Medien die Schädlichkeit der 5G-Technologie, die unter anderem Krebserkrankungen schüre sowie psychische Störungen zur Folge haben könne. Gleichzeitig wird die Entwicklung der 5G-Technologie im eigenen Land mit aller Intensität vorangetrieben, um gegenüber dem Westen nicht ins Hintertreffen zu geraten. Es wäre gescheiter, Politiker, Wissenschaftler und Wirtschaftsfachleute würden sich über alle Grenzen hinweg an einen Tisch setzen und den Sinn oder den Unsinn technologischer «Erneuerungen» kritisch beurteilen. Gedankenaustausch, Erfahrungsaustausch zum Wohle der Menschen anstelle von sinnloser gegenseitiger Konkurrenz und Ressourcenverschleiss um jeden Preis. Zumal auch die Vision, mit neuen Technologien würden zahllose neue Arbeitsplätze geschaffen, sehr wohl in ihr Gegenteil umschlagen könnte, wenn nämlich immer mehr technische Geräte die bisherige Arbeit von Menschen übernehmen…

«Was alle angeht, können nur alle lösen.»

«Der Kapitalismus schafft einen fürchterlichen Graben. Entweder spannen Anhänger des Sozialismus und des Kapitalismus zusammen und setzen das System neu auf. Oder wir werden eine Art Revolution erleben, die uns allen schaden wird.»

(Ray Dalio, Chef von Bridgewater Associates, dem weltweit grössten Hedgefondsunternehmen, Jahresgehalt über eine Milliarde Dollar, in: «Eco», Fernsehen SRF1, 13. Mai 2019) 

Da kann man nur hoffen, dass sich bei immer mehr bisherigen Nutzniessern der kapitalistischen Umverteilung das schlechte Gewissen meldet und die Idee, gemeinsam neue Wege zu suchen, immer mehr Anhänger findet. Denn es ist genau so, wie Ray Dalio sagt: Kommt es zu einer Revolution, ist die Gefahr eines Chaos gross, und daran kann niemand wirklich interessiert sein. Zudem birgt eine Revolution, also eine gewaltsame Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, die grosse Gefahr in sich, dass einfach jene, die machtlos waren, an die Macht gelangen und umgekehrt – während sich an den Strukturen der bisherigen Ordnung nicht wirklich tiefgreifend etwas ändert. Denn, wie es auch der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: «Was alle angeht, können nur alle lösen.»

«Wir brauchen eine ganze andere Philosophie»

Der regierungsamtliche Ausschuss Grossbritanniens für Klimawandel schätzt, dass bis zum Jahr 2080 100’000 Häuser «über die Klippe» gehen könnten, wenn, wie mittlerweile befürchtet, Sturm, Regen und Erosion wegen des Klimawandels zunehmen und der Meeresspiegel um einen vollen Meter steigt. Und das wären nur die Opfer bröckelnder Küsten auf der Insel. Millionen Briten steht im Ansturm der Wetter und Wogen regelmässige oder gar permanente Überflutung  ihrer Häuser und Wohnungen bevor. Ganze Strassennetze und Eisenbahntrassen, fast hundert Bahnhöfe, aber auch zahllose Kraftwerke, Ölraffinerien, Gas-Terminals und rund tausend hochgiftige Abfalllager in tiefgelegenen Landstrichen an den Küsten sind über kurz oder lang gefährdet. Für Emma Howard Boyd, die Chefin des Umweltamtes, besteht kein Zweifel mehr daran, was auf ihre Leute da zu kommt – und warum. «Überschwemmungen hat es natürlich immer gegeben», meinte sie. «Aber der Klimawandel nimmt zu und beschleunigt diese Gefahren. Und wir können einen Krieg gegen das Wasser nicht gewinnen, indem wir nur immer höhere Dämme bauen.» Stattdessen brauche man, meint Boyd, «eine ganz andere Philosophie»… Manche Landstriche werden bei einem wirklich dramatischen Anstieg des Meeresspiegels und gleichzeitiger starker Zunahme von Regenfällen nicht zu retten sein. «Letztlich», erklärte die Umweltamts-Chefin erstmals offen, «werden wir ganze Gemeinden in Sicherheit bringen müssen.» Für viele wird eine Rückkehr nicht mehr möglich sein… Fast 200 Kilometer oft dicht besiedelter Küste gelten als unmittelbar flutgefährdet, von alten Städtchen wie Great Yarmouth oder Lyme Regis bis zu den Neubaugebieten in der Themsemündung oder am Humber… Schlimmstenfalls, warnen Experten, können sogar Städte wie Norwich oder Liverpool den Fluten zum Opfer fallen. So hoch über dem Meer liegen sie nicht… Schon im nächsten halben Jahrhundert, befürchten Forscher, könnten Schächte der Londoner U-Bahn und Teile der Kanalisation der 9-Millionen-Stadt von einer anschwellenden Themse überwältigt werden. Ein neues, grösseres Themse-Sperrwerk im Vorfeld das alten ist bereits in Planung. Im Falle Londons sei der «ökonomische Nutzen» massiver Schutzvorrichtungen höher als an den meisten Küsten, rechtfertigen Londons Verteidiger ihr Projekt. «Und das», meint Professor Jim Hall vom regierungsamtlichen Ausschuss für Klimawandel, «ist nur der Anfang dessen, was der Klimawandel uns kosten wird.»

(Tages-Anzeiger, 13. Mai 2019)

Noch nie waren Landesgrenzen so bedeutungslos wie heute. Konnten sich die einzelnen Staaten bis vor Kurzem noch hinter ihren Armeen verschanzen, mittels Handel oder eigenen Bodenschätzen und Landwirtschaftsgebieten ihren Wohlstand sichern und das gesellschaftliche Leben nach eigenen Gesetzen organisieren, so ist das heute, seit der Klimawandel weltweit immer tiefere Wunden aufreisst, nicht mehr möglich. Wir sitzen nicht mehr in 200 verschiedenen Booten, wir sitzen in einem einzigen Boot. Und entweder geht dieses Boot unter, oder wir schaffen es, dies zu verhindern. Das im Artikel erwähnte Beispiel der Kosten, die in Grossbritannien für Massnahmen gegen den Klimawandel anfallen werden, zeigt, dass eine «technische» Lösung des Problems gar nicht möglich ist – die Kosten würden exorbitante Ausmasse annehmen und nicht nur in den armen Ländern des Südens, sondern auch in den reichen Ländern des Nordens jegliches Staatsbudget ins Unermessliche pulverisieren. Deshalb gibt es nur eine Lösung, so wie sie auch an den von Schülerinnen und Schülern weltweit organisierten Klimastreiks immer deutlicher zu vernehmen ist: «System Change, not Climate Change» – genau das, was auch Emma Howard Boyd, die Chefin des britischen Umweltamtes, meinte, als sie sagte, wir bräuchten eine «ganz andere Philosophie». Deshalb ist die Klimastreikbewegung der weltweiten Jugend zwar das Vernünftigste und Beste, was man sich nur erträumen kann, zugleich aber doch bloss ein erster zaghafter Anfang von etwas viel Grösserem, das noch kommen wird.