Archiv des Autors: Peter Sutter

Überwindung des Patriarchats genügt nicht

Zweifellos sind die am Frauenstreiktag erhobenen Forderungen nach mehr Chancen und Gleichberechtigung der Frauen mehr als berechtigt. Dennoch wird damit die Tatsache verschleiert, dass Ausbeutung und Diskriminierung nicht nur etwas Frauenspezifisches sind, sondern vor allem auch etwas Klassenspezifisches. Auch die europäische Hausfrau, die im Supermarkt Tomaten kauft, wird zur Ausbeuterin von – weiblichen und männlichen – Plantagenarbeiterinnen und Plantagenarbeiter in Spanien oder Marokko. Auch die gutbetuchte Reisende auf dem Kreuzfahrtschiff beteiligt sich an der Ausbeutung aller – weiblichen und männlichen – Angestellten auf dem Schiff. Und die Aktionärin eines Grosskonzerns erhält auch nur deshalb eine so hohe Dividende, weil diese Firma so profitabel ist und die ihr tätigen – weiblichen und männlichen – Arbeitskräfte vergleichsweise so wenig verdienen. Je mehr Frauen in die oberen Etagen von Gesellschaft und Wirtschaft aufsteigen, umso mehr partizipieren sie – ob sie wollen oder nicht – an den kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsstrukturen. Ausbeutung und Diskriminierung sind nicht schon überwunden, wenn das Patriarchat überwunden ist. Sie sind erst dann überwunden, wenn auch der Kapitalismus und die mit ihm verbundene Klassengesellschaft überwunden ist.

Donald Trump: Früher hätte so etwas eine Revolution ausgelöst

Donald Trump ist ein passionierter Golfspieler. Er besitzt insgesamt 17 Golfanlagen. Er lässt sie jeweils mit kitschigen und übergrossen Wasserfällen aufmotzen und zählt sie zu den schönsten der Welt. Und wenn er den Golfschläger schwingt, wird es für den Steuerzahler so richtig teuer. Die Kosten für sein Golfspielen, alles berappt aus Steuergeldern, belaufen sich bis dato auf 106 Millionen Dollar. Diese Kosten läppern sich dabei wie folgt zusammen: Rund 60 Geheimagenten und 6 Sicherheitsspezialisten sind jeweils am Golfplatz anwesend. Sie bewachen nicht nur den Präsidenten, sondern auch den «nuklearen Football», das Gerät, das einen Atomkrieg auslösen kann. Der stellvertretende Stabschef ist genauso auf dem Platz wie ein Arzt, der regelmässig den Blutdruck des Präsidenten kontrolliert. Dazu kommen Kommunikationsfachleute, ein tragbarer Zivilschutzkeller und jede Menge Gasmasken, Maschinengewehre und andere Waffen. Doch das ist noch nicht alles. Der Golfprofi Mark Calcavecchia, der einmal eine Runde mit Trump gespielt hat, erzählt: «Vor dem Clubhaus war ein Feuerwehrauto, eine Ambulanz, zehn schwarze SUVs, Polizeiautos, Hunde, einfach alles.» Trump wäre nicht Trump, wenn er dabei nicht noch auf Kosten der Steuerzahler profitieren würde. Bei seinem Trip an die Feierlichkeiten des D-Days übernachteten er und sein Tross auf Doonbeg, seinem Golfresort in Irland. Dafür stellte er dem Staat eine Rechnung in der Höhe von 3,6 Millionen Dollar.

(www.watson.ch)

Unglaublich, was sich die Bevölkerung eines «demokratischen» Landes wie der USA alles gefallen lässt. Als der französische Sonnenkönig Louis XIV weit weniger krass prasste als Donald Trump, führte das ein paar Jahrzehnte und ein paar weitere prassende Könige später immerhin zur Französischen Revolution, ausgelöst ohne Zeitungen, ohne Fernsehen, ohne Radio, ohne Internet, bloss durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Was ist zwischen 1789, dem Jahr der Französischen Revolution mit ihren Parolen «Gleichheit», «Freiheit» und «Brüderlichkeit», und heute eigentlich geschehen? Weshalb ist der gesellschaftliche und soziale Fortschritt im Gegensatz zum technologischen Fortschritt dermassen krass auf der Strecke geblieben?

Ausbeutung der Frauen und Ausbeutung der Natur: gleiche historische Wurzeln

Zuerst sah es danach aus, als würden die Klimastreiker die Strassen am Freitag, 14. Juni, zu Gunsten des Frauenstreiktags auf eigene Aktivitäten verzichten. Zu wenig Parallelen seien zwischen Feminismus und Umweltschutz zu finden. Nun aber ist klar: Die jungen Klimaaktivisten werden beim Frauenstreik mitmarschieren, sich aber bewusst im Hintergrund halten.

(www.nau.ch)

Woher diese Zögerlichkeit, woher diese Zurückhaltung und woher die Behauptung, zwischen dem Umweltschutz und dem Feminismus gäbe es «zu wenige Parallelen»? Es braucht doch nur einen kurzen Blick in die Geschichte, um zu sehen, dass die beiden Bewegungen sehr wohl sehr viel miteinander verbindet, haben doch die Klimaveränderung und die Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen die genau gleichen historischen Wurzeln: das Patriarchat, die Macht- und Eroberungslust des weissen Mannes, der nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen – zunächst als Sklaven, später als Lohnabhängige – dem Interesse endlos wachsender Macht- und Geldvermehrung unterworfen hat. Benachteiligte Frauen und die ausgebeutete Natur sind die Opfer des gleichen Machtsystems genannt Kapitalismus. Und daher müssten sich die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen am 14. Juni ganz und gar nicht zurückhalten, sondern im Gegenteil an vorderster Front Hand in Hand mit den Teilnehmerinnen am Frauenstreiktag mitmarschieren, im Kampf gegen den gleichen gemeinsamen Widersacher, den Kapitalismus. Und eigentlich müssten da auch noch Abertausende von Männern mitmarschieren, denn Opfer dieses Gewaltsystems sind keinesfalls nur die Frauen und die Natur, sondern auch all jene Männer, die hierzulande und weltweit sich für Hungerlöhne zu Tode schuften und trotz härtester, entbehrungsreichster Arbeit von den Reichen nur Fusstritte und Verachtung empfangen. Und dann müssten auch noch alle anderen Kinder, die noch nicht in der Klimastreikbewegung engagiert sind, ebenfalls mitmarschieren in solidarischer Verbundenheit mit all jenen Abermillionen Altersgenossen und Altersgenossinnen, die weltweit Tag für Tag schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres an Unterernährung oder mangelnder Hygiene sterben. Und es müssten auch die Flüchtlinge mitmarschieren, stellvertretend für jene Milliarde Menschen, die in Kriegs- und Hungergebieten geboren wurden und keinen sehnlicheren Wunsch haben als jeden Tag einen Teller voller Essen, ein Dach über dem Kopf und Frieden. Was für ein gewaltiger Strom an Menschen wäre das, was für ein Erdbeben voller Hoffnung auf den Beginn einer neuen Zeit. Dass es aber noch nicht zum Zusammenschluss aller dieser Bewegungen und noch nicht zu einer grenzüberschreitenden Solidarisierung sämtlicher Opfer des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems gekommen ist und alle diese Gruppen und Grüppchen immer noch fein säuberlich voneinander getrennt sind oder sich sogar gegenseitig feindselig verhalten – dies liegt einzig und allein im Interesse des Kapitalismus und seiner altrömischen Devise des «Teile und herrsche», wonach sich die Menschen dann am besten regieren und manipulieren lassen, wenn man sie in möglichst viele und daher möglichst kleine Gruppen aufspaltet und jeden Ansatz gegenseitiger Solidarität schon im Keime erstickt…

Widerspruch von Demokratie und Kapitalismus

Das reichste 1 Prozent der US-Bevölkerung besitzt heute 40 Prozent aller Vermögenswerte. Im Jahr 1980 besass dieses eine Prozent noch weniger als 30 Prozent aller Vermögenswerte. Trotz aller demokratischen Prozesse nimmt die Konzentration der Vermögen weiter zu. Dies erlaube es heute den Reichsten, in Politik und Wirtschaft als Oligarchen einen Einfluss auszuüben, wie dies Oligarchen in Ländern ohne Demokratie tun könnten. Das erklärt Robert Reich von Pennsylvania. Von 1993 bis 1997 war er US-Arbeitsminister unter Präsident Bill Clinton. Heute ist er Professor für öffentliche Politik an der Goldman School of Public Policy der University of California, Berkeley.

(www.infosperber.ch)

 

Dies zeigt, dass Demokratie und Kapitalismus nichts miteinander zu tun haben. Zu behaupten, die Menschen in den kapitalistischen Ländern lebten in demokratischen Systemen, ist reine Schönfärberei und hat mit der Realität nicht das Geringste zu tun. Das stellen wir nur schon fest, wenn wir uns die Zusammensetzung unserer Parlamente und Regierungen anschauen: Wo sind da die Bauarbeiter, die Serviceangestellten, die Köche, die Krankenpflegerinnen, die alleinerziehenden Mütter? Um echte Demokratie zu gewährleisten, braucht es eine nichtkapitalistische Gesellschaftsordnung, in der Reichtum und Macht auf sämtliche Menschen gleichmässig verteilt sind.

«Ein ganzes Land rückt nach rechts»

«Ein ganzes Land rückt nach rechts» – so titelt der Tages-Anzeiger zu den dänischen Parlamentswahlen…. In Dänemark sieht alles danach aus, als könne eine in den vergangenen Jahren arg gebeutelte sozialdemokratische Partei die Liberalen und die Konservativen wieder in die Opposition boxen. Dabei haben die dänischen Genossen auf ihrem Weg zurück an die Macht einen radikalen Weg eingeschlagen, indem sie in der Migrationsfrage den Rechtspopulisten nacheifern… «Niemand ist ein schlechter Mensch, nur weil er sich Sorgen macht wegen der Immigration», sagt Mette Frederiksen, Parteichefin der Sozialdemokraten. Unter ihrer Führung hat die Partei eine Kehrtwende vollzogen: «Unser Wohlfahrtsmodell gerät unter Druck, ebenso wie unser hohes Niveau an Gleichheit und unsere Lebensweise. Es ist zunehmend klar, dass der Preis für unregulierte Globalisierung, Masseneinwanderung und die Freizügigkeit von Arbeitskraft von den unteren Schichten bezahlt wird.» Nun argumentiert Frederiksen, nur ein Rechtsschwenk könne den Wohlfahrtsstaat retten.

(Tages-Anzeiger, 5. Juni 2019)

Die Probleme, mit denen die «unteren Schichten» der dänischen Bevölkerung konfrontiert sind – unregulierte Globalisierung, Masseneinwanderung und Freizügigkeit von Arbeitskraft – sind Probleme des Kapitalismus, nicht der Migration: Der Kapitalismus ist es, der die Menschen über alle Grenzen hinweg einer immer ungezügelteren Ausbeutung aussetzt, der den Konkurrenzkampf zwischen Regionen und Ländern anheizt und der auch hauptverantwortlich ist für die «Masseneinwanderung» in einer geteilten Welt, in der die Menschen in den armen, ausgebluteten Ländern auf ganz natürliche Weise – wie Mücken nach dem Licht – dorthin drängen, wo ein besseres Leben lockt. Driftet nun die dänische Sozialdemokratie nach rechts, so bedeutet dies nichts anderes als die Übernahme rechter Positionen, wonach an den aktuellen sozialen Problemen vor allem die Migration schuld sei und nicht das globale kapitalistische Ausbeutungssystem. Um dauerhafte politische Lösungen hinzukriegen, müsste sich die Sozialdemokratie wieder auf ihre Grundwerte einer sozial gerechten und friedlichen Welt, frei von gegenseitiger Ausbeutung, zurückbesinnen und sich gerade nicht  von den rechten Parteien in ihr Fahrwasser ziehen lassen. Was wir brauchen, ist ein globales politisches Bündnis aller «Linkskräfte» zum Aufbau einer nichtkapitalistischen Weltordnung und nicht aufgeregte Feuerwehren, die vom einen brennenden Haus zum anderen hin- und herrennen.

Elektroautos schädlicher als Benzinautos

Das grösste Bauteil eines Elektro-Autos ist mit mehreren hundert Kilo Gewicht die Batterie. Sie ist auch das klimaschädlichste. Denn für das hier verwendete Lithium werden fragile Ökosysteme in Südamerika zerstört und der dort lebenden Bevölkerung Land und Wasser geraubt. Eine ökologische und menschliche Katastrophe, in Kauf genommen für das «Null-Emissionen-Auto» in Europa. Die Herstellung eines 100-kWh-Akkus, notwendig für eine Reichweite von rund 400 Kilometern, verursacht eine Klimabelastung von 15 bis 20 Tonnen Kohlendioxid. Ein Wert, für den ein 6-Liter-Mittelklassewagen mit Benzin- oder Dieselmotor bis zu 100’000 Kilometer weit fahren kann. Für die Produktion von Elektro-Autos werden sehr viele unterschiedliche Rohstoffe gebraucht. Die Summe der Umweltbelastung durch alle bei der Herstellung verwendeten Materialien ist bei der E-Mobilität im Vergleich zu Verbrennungsmotoren doppelt so hoch. Unter dem Strich sind E-Autos keineswegs umweltfreundlicher als Benziner oder Diesel, zumindest nicht, wenn sie eine ähnliche Reichweite haben.

(«Kann das Elektro-Auto die Umwelt retten?», ARD, 3. Juni 2019)

Das Beispiel des E-Mobils zeigt, dass sich der Kapitalismus nicht mit den Methoden, Instrumenten und Werkzeugen des Kapitalismus überwinden lässt. Ob man es wahrhaben will oder nicht: Ob von Benzin, Diesel, Wasserstoff oder Elektrizität angetrieben, das private Motorfahrzeug ist und bleibt ein Auslaufmodell, das auf diesem Planeten, wenn wir nur den Hauch einer Überlebenschance haben wollen, früher oder später keinen Platz mehr haben wird. Es gibt nur zwei sinnvolle Wege: Erstens, die Mobilität auf das absolut unerlässliche Minimum zu reduzieren. Und zweitens, den Privatverkehr durch ein möglichst gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem zu ersetzen.

«Heute kämpfen wir Kinder selbst»

Rund 1,6 Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben am 24. Mai 2019 in über 120 Ländern am Weltklimastreiktag teilgenommen. Sensationell. Hatten viele Erwachsene der Klimastreikbewegung, als sie vergangenen November begann, nur eine kurze Dauer vorausgesagt, da das Engagement Jugendlicher und die Begeisterung für ein bestimmtes Thema meist ziemlich rasch wieder verfliege, ist nun genau das Gegenteil der Fall: Während die erwachsene Medienwelt von einem «Hype» zum andern hüpft – mal ist es der Brexit, dann wieder die Regierungskrise in Österreich, mal die Drohgebärden Trumps gegen den Iran, dann wieder die Europawahlen – ist sich die Jugend in ihrem Kampf für eine lebenswerte Zukunft nach wie vor treu geblieben und bleibt unbeirrt auf der Strasse. Wie achtlos zahlreiche Medien auf diesen 24. Mai, an dem eine der weltweit grössten Demonstrationen der Geschichte stattgefunden hat, reagieren, zeigt sich am Beispiel des Schweizer «Tages-Anzeigers», der die in 120 Ländern stattgefundenen Klimastreiks mit keinem Wort erwähnt und nur im Zürcher Lokalteil kurz auf die rund 10’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Zürich eingeht. Und am Schweizer Fernsehen widmet sich die Sendung «10vor10» ausschliesslich den Europawahlen, da ist kein Platz mehr für die Klimastreikbewegung. Doch all das scheint die jungen Menschen erst recht zu beflügeln, auf keinen Fall lockerzulassen: «In der französischen Revolution» – so eine Erklärung von Greta Thunberg und 46 weiterer Schüler-Aktivisten aus aller Welt, «gingen Mütter für ihre Kinder auf die Straße. Heute kämpfen wir Kinder selbst, doch so viele unserer Eltern sind mit Diskussionen über unsere Zensuren, eine neue Diät oder den Ereignissen im Finale von Game of Thrones beschäftigt, während der Planet brennt.»

Wie die Rechtspopulisten die Wut der Menschen instrumentalisieren

«Wie überall in Europa, so wehrt sich auch in Frankreich das Volk gegen diese blinde Globalisierung, gegen ein System, das Menschen und Unternehmen dem Gesetz des Stärkeren unterwirft. Gegen die Diktatur der Finanzmärkte und die Herrschaft des Geldes.»

(Marine Le Pen, führende Politikerin des rechtsextremen Rassemblement National in Frankreich, in: «Wahlkampf der Wutbürger», arte, 21. Mai 2019)

Was Marine Le Pen sagt, könnte ebenso gut ein Linkssozialist und Antikapitalist gesagt haben. Politiker wie Marine Le Pen wissen nur zu gut, wo den Menschen der Schuh drückt: Während es denen «oben» immer besser geht, geht es denen «unten» immer schlechter. Aber es ist eben einfacher, gegen die EU oder gegen die Flüchtlinge Hass zu schüren und sich politisch zu profilieren, als das kapitalistische System grundsätzlich in Frage zu stellen und sich für den Aufbau einer gerechten, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu engagieren. Das Gleiche gilt ebenso für alle anderen rechtspopulistischen Bewegungen Europas von der österreichischen FPÖ über die deutsche AfD bis zur italienischen Lega Nord: ein gefährliches und letztlich sinnloses Machtspiel zwischen den «Grosskapitalisten» – der herrschenden Machtelite – und den «Kleinkapitalisten» – den rechtspopulistischen Gruppen und Grüppchen -, bei dem es am Ende nur Verlierer gibt und alles beim Alten bleibt. Ein wirksames Gegenmittel wäre einzig und allein eine überzeugende Linke, die sich nicht mit den heutigen Machtstrukturen der EU identifiziert, sondern die «Wut» einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürgern ernst nimmt und genau das umsetzt, was Marine Le Pen – angeblich – fordert, nämlich eine Gesellschaft ohne «blinde Globalisierung» und ohne «Diktat der Finanzmärkte und des Geldes.» Ganz so, wie es auch einer der Gelbwesten formulierte: «Das Schönste ist, dass die Menschen mitten im Winter wieder einen Begriff entdeckt haben: den Begriff der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.» Eine Lösung liegt nicht in lokalen, regionalen Machtkämpfen, nicht im Schüren von Hass, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus, nicht in gegenseitigen Schulzuweisungen – sondern nur in einer friedlichen, grenzüberschreitenden Überwindung des Kapitalismus.

Erhöhung des Rentenalters?

Eifrig wird, quer durch alle politischen Parteien, über eine mögliche Erhöhung des Rentenalters diskutiert. Doch wozu die ganze Aufregung? Stellenlose 50Jährige haben immer grössere Schwierigkeiten, einen Job zu finden, die Zahl der Langzeitarbeitslosen steigt kontinuierlich an, zudem heisst es immer wieder, infolge Rationalisierung und Automatisierung gehe uns langfristig die Arbeit aus. Müsste man das Rentenalter nicht eher senken als erhöhen? Das Problem ist nicht, dass wir uns ein tieferes Rentenalter nicht leisten könnten. Das Problem ist die massive Ungleichverteilung der Vermögen und Einkommen. Jene 41 Milliarden Franken, welche die Aktionäre der 30 grössten Schweizer Unternehmen im Jahre 2018 «verdienten», würden ausreichen, die jährlichen AHV-Renten vollumfänglich zu finanzieren…

Sozialhilfe in Bern: Grund zur Euphorie?

«Bern zeigt Herz für die Schwächsten» titelt der «Tages-Anzeiger» zur Abstimmung über eine Reduktion der Sozialhilfe im Kanton Bern. Diese – also eine Kürzung der Sozialhilfe – wurde am vergangenen Wochenende von 52,6 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger abgelehnt. Das Ergebnis, so der «Tages-Anzeiger», habe auf linksgrüner Seite für «Euphorie» gesorgt, für die Mitglieder des Nein-Komitees sei es ein «historischer Erfolg».

(Tages-Anzeiger, 20. Mai 2019)

Ein Herz für die Schwächsten. Euphorie. Ein historischer Erfolg. Unglaublich, wie bescheiden die Ansprüche der Linken schon geworden sind. Gut, eine Reduktion der Sozialhilfe wurde verworfen. Dies aber bloss mit einer hauchdünnen Mehrheit. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat es übers Herz gebracht, einer Vorlage zuzustimmen, deren Annahme dazu geführt hätte, dass Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger künftig gerade mal noch fünf Franken pro Tag und Person fürs Essen zur Verfügung gehabt hätten – was anderes ist dies als ein unerhörter Skandal. Ausgedehnte wissenschaftliche Versuche haben gezeigt, dass sich Kinder bis zum Schuleintritt ausgesprochen sozial und fürsorglich verhalten. Wenn, wie das dieses Abstimmungsergebnis zeigt, nahezu die Hälfte der Erwachsenen einen so grossen Egoismus und so grosse Missgunst an den Tag legen, dass sie die Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft am liebsten in den Hunger oder gar in die Obdachlosigkeit treiben würden, dann muss dies etwas zu tun haben mit dem Hineinwachsen der Jugendlichen und späteren Erwachsenen in das kapitalistische Wertesystem, in dem jeder vor allem oder fast ausschliesslich nur noch für sich selber schaut und Werte wie Solidarität und Nächstenliebe immer mehr an Bedeutung verlieren. Einigermassen nachvollziehbar ist höchstens das Verhalten von Tiefstlohnbezügern. Diese rackern sich am Tag und oft auch in der Nacht doppelt und dreifach ab und müssen mit ansehen, dass Mitbürger und Mitbürgerinnen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen und Sozialhilfe beziehen, dennoch am Ende des Monats mehr in der Tasche haben als sie. Aber erstens machen Tiefstlohnbezüger nicht 48,4 Prozent der Bevölkerung aus und zweitens müssten diese, statt für eine Reduktion der Sozialhilfe, wenn schon für eine Anhebung der Mindestlöhne ankämpfen. Eigentlich ist es nur schon ein Skandal, dass über dieses Thema überhaupt abgestimmt wird. Die Sicherung der existenziellen Lebensgrundlagen sollte, gerade in einem so reichen Land wie der Schweiz, eine Selbstverständlichkeit sein, die man nicht im einen oder anderen Kanton an der Urne nach Belieben ein- und aushebeln kann. Demokratie in Ehren, aber schliesslich wird auch nicht darüber abgestimmt, ob man einen Mitmenschen, mit dem man Streit hat, auf offener Strasse erschiessen dürfe oder nicht.