Archiv des Autors: Peter Sutter

Griechenland: Im Würgegriff des Kapitalismus

Aus der Parlamentswahl in Griechenland am Sonntag ist die konservativ-liberale Nea Dimokratia (ND) als klarer Sieger hervorgegangen. Neuer Ministerpräsident wird der ND-Chef Kyriakos Mitsotakis. Der bisherige Premier Alexis Tsipras musste eine deutliche Niederlage einstecken. «Heute nehmen die Griechinnen und Griechen ihre Zukunft in die Hand», sagte Mitsotakis bei der Stimmabgabe. «Morgen wird ein besserer Tag für unser Land anbrechen.»

(W&O, 7. Juli 2019)

Ein besserer Tag für unser Land. Eine neue Zukunft. Genau das Gleiche versprach auch Alexis Tsipras dem griechischen Volk vor vier Jahren und wurde mit riesigen Erwartungen vor allem seitens der benachteiligten Bevölkerungsschichten zum Premierminister gewählt. Seither sind vier bittere Jahre vergangen und nahezu alle Versprechungen, die Tsipras gemacht hatte, haben sich in Luft aufgelöst: Die finanzielle Lage der unteren Einkommensschichten, der Mittelschicht wie auch der Rentner und Rentnerinnen hat sich weiter verschlechtert, bei der Grundversorgung wurde zusätzlich gespart und die Arbeitslosenquote beträgt immer noch 18 Prozent. Nun dürstet die ausgepowerte Bevölkerung nach neuer Hoffnung, diesmal in Gestalt der Nea Demokratia und ihres Führers Kyriakos Mitsotakis, der vergangenen Sonntag zum neuen griechischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Doch aller Voraussicht nach werden sich auch seine Versprechungen über kurz oder lang in Luft auflösen und nach weiteren vier Jahren wird eine abermals zutiefst enttäuschte Bevölkerung wiederum einem neuen Hoffnungsträger ihre Stimme geben. Ein Spiel, das endlos weitergeht und immer tiefere Wunden hinterlassen wird – so lange wir es nicht schaffen, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft auf eine von Grund auf neue, nichtkapitalistische Basis zu stellen, in der nicht mehr das Wohl von Banken, Börsen, Finanzinstitutionen, Vermögenden und Besitzenden an oberster Stelle steht, sondern das Wohl der ganz «gewöhnlichen» Menschen über alle Grenzen hinweg.

«Gute» und «böse» Mauernbauer

Die Schweizer Aussengrenze beginnt in Afrika. Genauer: südlich der Sahara. Dort, an den sandigen Grenzposten im Norden Nigerias, werden Migranten mithilfe des Bundes biometrisch erfasst. Das Ziel: Flüchtlinge davon abhalten, nach Europa zu kommen. «Verminderung der irregulären ­Migration», heisst das in Beamtendeutsch. Nigeria ist eines der wichtigsten Herkunftsländer von Einwanderern nach Europa. Täglich machen sich Menschen auf die gefährliche Reise Richtung Norden, fliehen vor Armut und Gewalt. Um diese Reise schon von Beginn weg zu erschweren, unterstützt die Schweiz die nigerianischen Grenzschützer mit 313’000 Franken. Das Geld fliesst über die Internationale Organisation für Migration (IOM) und wird vor Ort gebraucht, um Nigeria bei der «Datenerfassung im Grenzmanagement» zu unterstützen, wie es das Staats­sekretariat für Migration (SEM) in seinen Papieren formuliert. Weitere 60’000 Franken jährlich investiert das Bundesamt für Polizei (Fedpol) in die Zusammenarbeit mit der nigerianischen Polizei. Auch dabei geht es mitunter um die Bekämpfung der irregulären Migration. Die Gelder für Nigeria sind nur ein kleiner Teil der Schweizer Strategie, Flüchtlinge fernzuhalten. Längst baut der Bund kräftig mit an der Festung Europa. 345’000 Franken fliessen nach Ägypten in den «Kapazitätsaufbau zur Bekämpfung von Menschenschmuggel», 12’000 in die Kooperation mit der tunesischen Polizei. Und: 80’000 pro Jahr zahlt die Schweiz an die Ausbildung der maltesischen Küstenwache für Einsätze auf dem Mittelmeer. Malta hat ähnlich wie Italien einen harten Kurs gegen private Seenotretter wie die deutsche Kapitänin Carola Rackete eingeschlagen. Hinzu kommt das Schweizer Engagement bei Frontex, der europäi­schen Grenz- und Küstenwache. Die Schweiz ist in Griechenland, Italien, Bulgarien, Kroatien und Spanien aktiv. Mit 14 Millionen Franken unterstützte der Bund Frontex letztes Jahr. Dazu kommen 1457 Einsatztage von Schweizer Grenzwächtern, Kantonspolizisten und SEM-Beamten. Um die Flüchtlinge schon auf hoher See abzufangen, lässt sich der Bund auch mal auf Kooperationen mit fragwürdigen Partnern ein. So warf das SEM eine Million Franken auf, damit libysche Küstenwächter ausgebildet werden können und um deren Schiffe mit Material auszustatten. Zur besagten libyschen Küstenwache gehören mitunter auch bewaffnete Milizen, die die Migranten in überfüllte Lager auf dem afrikanischen Festland zurückzwingen. Regelmässig machen Schreckensmeldungen von Vergewaltigungen und Folter in den Lagern die Runde. Diese Woche wurden bei Luftangriffen auf ein Flüchtlingscamp in Tripolis 56 Menschen getötet.

(www.blick.ch)

Ein Schrei der Empörung ging durch ganz Westeuropa, als im August 1961 die Machthaber der damaligen DDR quer durch Berlin und an der Grenze zwischen der BRD und der DDR eine mit Minenfeldern und Stacheldrahtzäunen bewehrte Mauer errichten liessen, um DDR-Bürgerinnen und -Bürger davon abzuhalten, in den – vergleichsweise reicheren – Westen zu fliehen. Im Laufe der folgenden Jahre verloren mehrere hundert Flüchtlinge beim Versuch, diese Mauer zu überwinden, ihr Leben. Heute, fast 60 Jahre später, werden wieder Mauern gebaut. Nur sind es nicht mehr die «bösen» Kommunisten, die das tun, sondern die «guten» demokratischen Westeuropäer selber, ausgerechnet jene also, die sich damals über die «kommunistische» Mauer so empört zeigten. Worin liegt der Unterschied? Gibt es «gute» und «böse» Mauerbauer? Wohl kaum. Auch die neuen Mauern, mit denen Afrikanerinnen und Afrikaner davon abgehalten werden sollen, nach Europa zu gelangen, sind Mauern zwischen Armut und Reichtum, genau so wie die damaligen Mauern der DDR. Wiederum sollen Menschen, die unter Armut, Unterdrückung und Verfolgung leiden, daran gehindert werden, ein anderes Land aufzusuchen, das ihnen eine bessere Lebensperspektive bietet. Was die Grössenverhältnisse betrifft, so sind die von den heutigen Mauern zwischen Norden und Süden betroffenen Menschen wohl um ein Vielfaches zahlreicher als damals die betroffenen DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Und das heutige Wohlstandsgefälle zwischen dem Norden und dem Süden ist ebenfalls zweifellos um ein Vielfaches grösser als das damalige Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osteuropa. Dass die Schweiz – als reichstes Land der Welt – an diesem neuen Mauerbau an vorderster Front aktiv beteiligt ist, verwundert nicht sonderlich. Verwunderlich ist einzig, wie heimlich und unbeachtet von der politischen Öffentlichkeit dies alles geschieht. Wo bleibt heute jener Schrei der Empörung, der 1961 ganz Europa zum Zittern brachte?

«Es gibt keine Verschnaufspausen»

Was bewegt Lernende während ihrer Berufslehre? Das wollte die Pädagogische Hochschule St. Gallen in ihrer Befragung «Lebenswelten» herausfinden. Ein erster, unveröffentlichter Zwischenbericht liegt nun vor. Die bereits ausgewerteten Daten von 953 Befragten aus der Ostschweiz aus den Berufen von Kauffrau über Heizungsinstallateur bis hin zur Polymechanikerin zeigen: Die Lehre ist für viele kein Zuckerschlecken. So stimmen mehr als 60 Prozent der Lernenden der Aussage, bei der Arbeit häufig unter Zeitdruck zu stehen, mit «teilweise» bis «völlig» zu. Jeder Zehnte gibt an, es stimme völlig, dass er mehr Verschnaufpausen brauche. Die jungen Berufsleute sehen sich zudem mit grossen Ansprüchen konfrontiert: Mehr als die Hälfte findet, es stimme «teilweise» bis «völlig», dass an sie zu hohe Anforderungen gestellt würden. In der Befragung äusserten sich die Lernenden auch konkret dazu, wie sie den Druck im Arbeitsleben wahrnehmen. Eine Auswahl: Automobilfachmann im 1. Lehrjahr: «Ich muss arbeiten, als wäre ich fertig mit meiner Lehre. Ich darf zwar fragen, aber ich muss die Zeiten einhalten.» Fachfrau Gesundheit, 1. Lehrjahr: «Es ist viel Zeitmangel vorhanden, mit dem ich nicht immer klarkomme. Durch Personalmangel entsteht noch mehr Stress.» Grafikerin, 3. Lehrjahr: «Es gibt keine Verschnaufpausen, ich muss konstant an vielen verschiedenen Aufgaben arbeiten. Viele Überstunden, den ganzen Tag weg von zu Hause sein.» Fachfrau Gesundheit, 2. Lehrjahr: «Unter Zeitdruck arbeiten, Schule und Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Allen gerecht zu werden, sei es den Patienten oder der Berufsbildnerin, Angehörigen und Lehrerinnen.» Dies alles, so Lehrlingsbetreuer Andrea Ruckstuhl, habe generell mit dem gestiegenen Druck in der Arbeitswelt zu tun. «Ein Schreiner musste früher handwerkliches Können besitzen, heute muss er zwingend einen Computer bedienen können», so Ruckstuhl. «Diese Realität kann für viele trotz vorheriger Schnupperlehre ein Schock sein», sagt er. Hinzu komme der Zeitdruck, unter dem viele Betriebe stünden. Es bleibe wenig Zeit für Lernende, sich gründlich in eine Aufgabe einzuarbeiten. So stören sich laut Befragung auch mehr als 40 Prozent der Befragten daran, immer wieder bei der Arbeit unterbrochen zu werden. Ruckstuhl beobachtet, dass die meisten Lehrvertragsauflösungen wegen Konflikten mit Mitarbeitern oder dem Chef erfolgten. Das sei wiederum auf den Druck zurückzuführen. Denn wenn die Berufsbildner gestresst seien, hätten sie auch kaum Zeit für die Lernenden – und die fehlende Hilfe führe bei den Jugendlichen zu Überforderung.

(www.20minuten.ch)

Hohe Ansprüche. Viel Zeitmangel. Viel Stress. Zu grosser Zeitdruck. Zu hohe Anforderungen. Keine Verschnaufpausen. Viele Überstunden. Zu hohe Erwartungen, allem gerecht zu werden: Lehrlinge sind die sensibelsten Gradmesser der Arbeitswelt. Denn im Gegensatz zu einem 30- oder 50jährigen Familienvater ist ihre persönliche Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen, soziale Bindungen und persönliche Freundschaften müssen erst noch gesucht und aufgebaut werden, dunkle Phasen mit mangelndem Selbstwertgefühl, persönlichen Enttäuschungen, Gefühlen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein an die Forderungen, Zurechtweisungen oder den Tadel durch Vorgesetzte sind nicht selten. Dazu kommt die permanente Doppelbelastung durch Arbeitsplatz und Berufsschule, an beiden Orten werden Höchstleistungen gefordert und die Lehrlinge sind damit einem Erwartungsdruck ausgesetzt, dem weder die fertig ausgebildeten Berufsleute unterliegen noch all jene Jugendlichen, welche ein Gymnasium besuchen und sich voll und ganz auf die Schule konzentrieren können. Kein Wunder also, brechen so viele Jugendliche ihre Lehre ab. Können wir uns das auf die Länge leisten? Soll sich das Karussell der Arbeitswelt immer schneller drehen, bis sich nur noch die Allerstärksten daran festzuklammern vermögen und immer mehr andere, die nicht so stark sind, über Bord gehen? Was für eine Verschleuderung von Lebenskraft, von Talenten und Begabungen. Wäre es nicht endlich an der Zeit, das Tempo des Karussells so zu verlangsamen, dass alle, die dort angefangen haben, auch bis ganz zuletzt dabei bleiben können, mit Lust und Freude und ohne krank zu werden, ohne sich permanent überfordert zu fühlen und ohne das Selbstvertrauen und den Lebensmut zu verlieren…

 

«Du wirst fallengelassen wie eine heisse Kartoffel»

«Du wirst fallengelassen wie eine heisse Kartoffel», erzählt der 60jährige R.K. Zuletzt arbeitete er 16 Jahre lang als Geschäftsführer kleinerer Firmen, mit 58 wurde er überraschend entlassen. Doch habe er die nächsten zwei Jahre dank der Arbeitslosenversicherung und der Hoffnung auf eine neue Stelle gut überstanden. «Der viel härtere Schlag war die Aussteuerung. Das ist ein langsamer Erstickungstod: finanziell, gesundheitlich und sozial.» Trotz 300 Bewerbungen hat R.K. keinen neuen Job gefunden. R.K. ist kein Einzelfall. Gemäss Statistik des Amts für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich werden 51 Prozent der Arbeitslosen im Alter über 60 Jahren ausgesteuert. In der Sozialhilfe sind die 55- bis 64Jährigen die am schnellsten wachsende Gruppe. Seit 2010 stieg ihre Zahl von 17’000 auf 27’000 Personen – eine Zunahme von fast 60 Prozent. Wer ausgesteuert wird, sitzt in der Armutsfalle: So erhalten Alleinstehende erst dann Sozialhilfe, wenn ihr Vermögen unter 4000 Franken fällt und ihr Wohneigentum verkauft ist.

(NZZ am Sonntag, 7. Juli 2019)

Das einzige Argument für eine Erhöhung des Rentenalters besteht in der Behauptung, dass wir uns, weil die Menschen immer älter werden und damit während einer immer längeren Zeit eine Rente beziehen, das heutige Rentenalter schlicht und einfach nicht mehr leisten könnten. Es geht also um Geld. Um Geld, dass bei der AHV fehlt, wenn wir zu früh in Rente gehen. Um Geld, das auch zukünftigen Generationen von Rentnerinnen und Rentnern fehlen wird, wenn wir heute zu viel davon «verprassen». So weit so gut. Doch die Realität sieht, wie die im obigen Artikel erwähnten Zahlen belegen, ganz anders aus: Die Wirtschaft will gar nicht, dass über 60Jährige noch länger einen Arbeitsplatz haben, die Zahl jener, die schon ab 55 keine neue Stelle mehr finden und ausgesteuert werden, steigt explosionsartig. Und auch da geht es wieder um Geld: Um das Geld, das die Erwerbslosen von der Arbeitslosenkasse erhalten. Um das Geld, das die Ausgesteuerten zwecks Lebensunterhalt aus ihrem eigenen Sack berappen müssen, bis sie gerade mal noch ein Vermögen von 4000 Franken ihr eigen nennen. Um Geld, das in Form von Sozialhilfe geleistet wird. Und nicht selten auch um Geld, das von der IV geleistet wird für Menschen, die den steigenden Anforderungen der heutigen Arbeitswelt nicht mehr gewachsen sind. Wenn man also aus finanziellen Gründen eine Erhöhung der AHV-Renten fordert, dann müsste man ehrlicherweise einräumen, dass das Geld, welches dort gewonnen wird, dafür an anderen Orten wieder fehlt bzw. aufgebracht werden muss: bei der Arbeitslosenkasse, bei der Sozialhilfe, bei den Privatvermögen jedes Einzelnen, bei der IV. Was käme wohl heraus, wenn man alle diese Aufwendungen zusammenzählen würde? Der Systemfehler liegt darin, dass alle diese Kassen fein säuberlich voneinander getrennt sind und jede einzelne unabhängig von den anderen – und letztlich auf Kosten der anderen – für ihre Existenz kämpfen muss, schliesslich hat jene Kasse die Oberhand, welche das grösste politische Gewicht und die stärksten politischen Vetreterinnen und Vertreter hat. Die einzige vernünftige Lösung würde darin bestehen, alle diese Kassen zu einer einzigen zusammenzulegen, um nicht die eine gegen die andere auszuspielen. Vielleicht würde man dann beispielsweise, wenn man die steigenden Kosten für die Sozialhilfe und für die Unterstützung von Arbeitslosen in Betracht zieht, nicht mehr so leichtfertig eine Erhöhung des AHV-Alters fordern.

Arbeitsbedingungen der Postautofahrer: Wer profitiert und wer zahlt drauf?

Postautofahrer ist ein anspruchsvoller Job: lange Tage, hoher Zeitdruck – und riesige Verantwortung für die Passagiere. Eine Gruppe Chauffeure beklagt nun die harten Arbeitsbedingungen: «Wir sind teilweise so erschöpft, dass wir die Sicherheit von Kunden und Fahrern nicht mehr gewährleisten können.» Die Chauffeure, die aus Angst um den Job anonym bleiben wollen, stellten dem «Blick» ihre Arbeitspläne zur Verfügung. Diese belegen: Tatsächlich kommen die Fahrer manchmal an ihre Grenzen. So muss etwa ein Chauffeur in Nunningen SO ab dem 1. Juli ganze zwölf Tage am Stück hinter dem Steuer sitzen – ohne auch nur einen freien Tag. Ein normales Privatleben sei so nicht möglich, sagt der Chauffeur. «Es ist uns bewusst, dass eine Folge von zwölf Arbeitstagen eine Belastung für unsere Mitarbeitenden darstellt», heisst es von Seiten der Verantwortlichen von Postauto. Man habe die Planer angehalten, solche Monstereinsätze nach Möglichkeit zu vermeiden. Gleichzeitig sei aber auch klar: Entscheidend seien die Bedürfnisse der Kundschaft – und nicht die der Fahrer…  Andere Fahrer haben Schichten, die sich über fast 14 Stunden erstrecken. So beginnt ein Chauffeur seinen Tag um 5.37 Uhr morgens. Und parkiert das Postauto um 19.13 Uhr am Abend. Zwar gibt es – unbezahlte – Wartezeiten während des Tages. Zu oft verbringen die Fahrer diese Leerzeiten aber neben ihren Fahrzeugen, beklagen sie. Habe man zwischen den Fahrten eine oder zwei Stunden freie Zeit, lohne es sich nämlich in den wenigsten Fällen, die Heimreise anzutreten. «Wir warten manchmal an Orten, wo es keine Toiletten oder Wasser gibt», sagen die unzufriedenen Chauffeure. Und manchmal zerstückeln diese unbezahlten «Pausen» die Dienste fast bis zur Unkenntlichkeit. So ist die Dienstdauer des Einsatzes mit der Nummer 243018 mit 7 Stunden und 36 Minuten angegeben. Im krassen Gegensatz dazu steht die bezahlte Zeit: gerade mal 2 Stunden und 36 Minuten! Konkret: Der Dienst beginnt um 5.47 morgens und dauert bis 7.13 Uhr. Danach hat der Fahrer Pause bis 12.15 Uhr – um dann noch eine knappe Stunde fahren zu dürfen. Nebeneffekt kann dann sogar sein, dass ein Chauffeur nach einem langen Tag nicht auf seine Stundenzahl kommt…

(www.blick.ch)

Vor 1998 – dem Ende der guten alten PTT – wären solche Zustände undenkbar gewesen. Da hatte die Zufriedenheit der Angestellten noch einen mindestens so hohen Stellenwert wie die Zufriedenheit der Kundschaft. Lebensqualität kann sich nur dort bilden, wo alle Beteiligten daraus einen Nutzen ziehen, eine win-win-Situation also. Wenn der öffentliche Verkehr so einseitig kundenorientiert ist und sozusagen diesen Kundinnen und Kunden jeden Wunsch von den Lippen abliest, während jene, welche die entsprechenden Leistungen erbringen müssen, unmenschliche Arbeitszeiten zu ertragen haben und sogar über viele Tage auf ein geregeltes Familienleben verzichten müssen, dann ist etwas ganz Zentrales in Schieflage geraten. Kundinnen und Kunden dürften nur in dem Masse «Könige» und «Königinnen» sein, als es auch die Angestellten sind.

 

 

Gastrobranche: Bevor das Kartenhaus zusammenbricht…

Nach der Lehre nichts wie weg. Das sagen sich offenbar viele junge Berufsleute in der Gastro-Branche. Denn rund jeder zweite Lehrabgänger schmeisst seinen Beruf hin und ist vier Jahre nach der Lehre nicht mehr in der Branche tätig, wie das aktuelle Lehrlingsbarometer der Hotel & Gastro Union (HGU) zeigt. Schuld an den vielen Abgängen sind laut HGU Arbeitszeiten, Überstunden, Dienstplan und Ferienregelung. Gemäss einer früheren Umfrage sind rund ein Drittel der Berufsabgänger damit unzufrieden. Im Bereich Restaurants und Service sind es gar mehr als die Hälfte. Ein anderes Problem sei der Ruf der Branche. «Wir müssen schauen, dass der Beruf in der Gesellschaft besser akzeptiert ist», sagt HGU-Marketingchef Roger Lütolf. So würden etwa viele Eltern ihren Kindern abraten, in die Branche einzusteigen. «Doch der Beruf ist ein Handwerk, das viel Leidenschaft erfordert, – und nicht einfach ein Job, um neben dem Studium ein bisschen Geld zu verdienen.»

(www.20minuten.ch)

 

Eigentlich müssten die Gastroberufe das erdenklich höchste gesellschaftliche Ansehen geniessen, das man sich nur vorstellen kann. Ist nicht die professionell organisierte Hochzeitsfeier mit einem wunderbaren Menu ein absolutes Highlight im Leben eines jeden frischvermählten Ehepaars? Freuen wir uns nicht schon Wochen oder Monate im Voraus auf unsere Hotelferien, wo wir uns rund um die Uhr von freundlichen Rezeptionistinnen, zuvorkommenden Kellnerinnen, fleissigen Zimmermädchen und exzellenten Köchen werden verwöhnen lassen? Treffen wir uns nicht mit aller grösstem Vergnügen wöchentlich in unserer «Stammbeiz», um in gemütlicher Atmosphäre zu plaudern und zu lachen? Was für ein Widerspruch: Auf der einen Seite nehmen wir alle diese Dienstleistungen noch so dankbar entgegen, auf der anderen Seite bestrafen wir jene, die sie verrichten, mit gesellschaftlicher Geringschätzung, schlechten Löhnen und katastrophalen Arbeitsbedingungen. Ein gesellschaftliches Pulverfass, denn eines Tages werden uns nicht mehr nur die Köche und Servierinnen davonlaufen, sondern auch die Verkäuferinnen, die Krankenpflegerinnen, die Kanal- und Kehrichtmänner, die Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter. Spätestens dann, wenn alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht, werden wir wohl erkennen, dass wir ihnen allen viel mehr Sorge hätten tragen müssen – durch entsprechende gesellschaftliche Anerkennung, durch faire Arbeitsbedingungen und durch einen Lohn, der weit über dem liegen müsste, was heute üblich ist und ganz und gar nicht den extrem hohen Anforderungen entspricht, die in diesen Berufen an der Tagesordnung sind.

Preiskampf auf dem Buckel von Tier und Mensch

Auf den Transportfahrzeugen, dicht an dicht aneinandergedrängt, ohne Wasser und oft in grösster Hitze, oft über zehn oder mehr Stunden lang, erleiden die Tiere unvorstellbare Qualen und trampeln sich nicht selten gegenseitig zu Tode. Dies hat auch viel mit dem Druck auf die Transporteure zu tun. «Je nach Tour», sagt einer von ihnen, «ist es fast nicht möglich, die Zeiten einzuhalten. Wollte man gute Bedingungen für die Tiere und die Chauffeure, dann müsste das Fleisch doppelt so teuer sein. Das will aber niemand.»

(Tages-Anzeiger, 5. Juli 2019)

Gnadenloser Preiskampf auf dem Buckel sowohl der Tiere wie auch der Chauffeure. Kapitalismus pur. Dabei wäre die Lösung so naheliegend: Entweder verzichtet man gänzlich auf den Verzehr von Fleisch. Oder man sorgt für tiergerechte Transporte und anständige Arbeitsbedingungen für die Chauffeure. Was zwar den Preis des Fleisches verdoppeln würde, doch hätte auch dies wiederum den positiven Effekt, dass viel weniger Fleisch gegessen würde – ein Segen für die Tiere, für die Natur und für den Erhalt der zukünftigen Lebensgrundlagen.

Nicht «böse« Chefs, sondern «böses» betriebswirtschaftliches Denken

P.D. arbeitete als «Front-Mitarbeiter» in einem Hotel der Gastro-Kette Local Group, in Suhr AG. «Ausbeutung pur», sagt er, «ich musste einfach alles machen – von der Reception und der Kasse über das Putzen bis zum Kochen und Backen. Einmal war ich alleine für die Reinigung von 30 Zimmern zuständig. Ich arbeitete bis zum Umfallen und kam alleine im Juni auf 383 Arbeitsstunden, tatsächlich waren es aber sicher noch einige mehr.»… S.F. brach seine Lehre als Detailhändler 2014 ab. Sein Chef hatte ihm im ersten Monat 20 Minusstunden eingeschrieben. «In den nächsten zwei Monaten habe ich mehrmals 11,5 Stunden am Stück gearbeitet», so S.F., «aber trotzdem hielt sich mein Stundensaldo im Minus auf». Als er ihn darauf angesprochen habe, sei der Chef ausgewichen und in sein Büro abgehauen… Noch brutaler sind die Schilderungen von T.P.: Er brach die Lehre als Bäcker ab, nachdem er vom neuen Inhaber stark gemobbt wurde. «Die Bäckerei wurde für mich zum schlimmsten Ort. Der Inhaber hat mir die Hand in die Fritteuse gehalten, weil die Berliner nicht rechtzeitig fertig waren.»… Körperliche Gewalt erlebte auch P.M. in seiner Ausbildung zum Kunststofftechnologen. «Maschinenführer wurden teilweise handgreiflich mit Fusstritten. Ich hatte keinen Mut, mich zu wehren, weil ich fürchtete, die Lehrstelle zu verlieren. Was dann?» – Kein Wunder, gehen der Schweiz die Handwerkerinnen und Handwerker aus. Über 42’000 Stellen sind zurzeit frei, wie eine Untersuchung von «Blick» zeigt. Und der Nachwuchs fehlt: Für viele Junge ist es nicht mehr attraktiv genug, in einen handwerklichen Beruf einzusteigen. Immer häufiger werden Handwerkerlehren frühzeitig abgebrochen. Spitzenreiter ist Coiffeur mit 41,9%, danach folgt der Carrossierspengler mit 40,6%, dicht gefolgt vom Plattenleger mit 40,4%. Das Bundesamt für Statistik erfasste für eine Statistik 2012 fast 60’500 Lernende, die in jenem Sommer ihre Ausbildung begannen. 17% von ihnen brachen eine Lehre ab, also über 10’000 junge Menschen.

(www.blick.ch)

Meist werden, wenn von solchen Missständen die Rede ist, die «bösen» Chefs an den Pranger gestellt. Tatsächlich aber müsste man nicht die Chefs an den Pranger stellen, sondern das Prinzip des betriebswirtschaftlichen Renditedenkens. Das Hotel, in dem P.D. arbeitete, steht ja nicht alleine auf weiter Flur. Es ist einem täglichen knallharten Konkurrenzkampf mit zahllosen weiteren Hotelbetrieben in der näheren und weiteren Umgebung ausgesetzt. Würde man mehr Personal einstellen und dieses besser entlöhnen, müsste man die Zimmerpreise entsprechend anpassen und kein Gast käme ausgerechnet noch in dieses Hotel, wenn ihm ein kostengünstigeres Konkurrenzangebot zur Verfügung steht. Und genau gleich ist es mit jedem Verkaufsgeschäft, mit jeder Bäckerei, mit jeder Gärtnerei, mit jedem Restaurant und mit jedem Handwerksbetrieb. Sie alle sind gezwungen, sich gegenseitig zu zerfleischen, und dies stets auf dem Buckel der Angestellten und unter ihnen wiederum in ganz besonderem Masse auf dem Buckel der Lehrlinge, die sich kaum gegen masslose Arbeitsbedingungen und entwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte zu wehren getrauen.

Eine Lösung besteht einzig und allein in einer Abkehr vom betriebswirtschaftlichen Renditedenken und der damit verbundenen gegenseitigen zu Tode Konkurrenzierung. Eine Sichtweise, die sich nicht an betriebswirtschaftlichem, sondern volkswirtschaftlichem Denken orientiert: Die Frage würde dann nicht mehr lauten: Wie viel Gewinn kann ich aus diesem oder jenem Betrieb herauspressen? Sondern: Was ist der volkswirtschaftliche Nutzen dieses oder jenes Betriebs? Was wäre eine Schweiz ohne Hotels und Restaurants, ohne Bäckereien und ohne Handwerksbetriebe, ohne Gärtnereien und ohne Bücherläden? Und genau so, wie das zum Beispiel auch bei Schulen, Museen, Bibliotheken, Theatern, Spitälern und der Landwirtschaft der Fall ist, müssten diese Betriebe gewisse staatliche Zuschüsse erhalten, damit sie, um überleben zu können, nicht dazu gezwungen sind, ihr Personal gnadenlos auszubeuten. Zweifellos würde das einiges kosten, doch der gesellschaftliche und menschliche Nutzen wäre immens…

 

Zwei Berufe statt einer: ein utopisches Gesellschaftsmodell

Bundesrat Alain Berset schlägt vor, das Frauenrentenalter von 64 auf 65 Jahre anzuheben. Und dies, obwohl Hunderttausende von Frauen anlässlich des Frauenstreiktags vor wenigen Wochen noch vehement gegen eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf die Strasse gingen.

(Tages-Anzeiger, 4. Juli 2019)

In den Diskussionen rund um das Rentenalter geht meistens vergessen, dass Arbeit nicht gleich Arbeit ist. Es gibt berufliche Tätigkeiten, die man, wenn es möglich wäre, zeitlebens ausüben möchte, während für andere das genaue Gegenteil zutrifft. Der Schweizer Maler, Bildhauer und Grafiker Hans Erni arbeitete noch im Alter von 100 Jahren täglich von früh bis spät in seinem Alter. Bruno Ganz drehte mit 76 Jahren seine letzten Filme. Emil Steinberger steht noch heute, mit 86 Jahren, allabendlich auf der Bühne. Eine Fabrikarbeiterin oder ein Bauarbeiter hingegen würden, wenn dies möglich wäre, am liebsten vielleicht schon mit 50 Jahren in Pension gehen…

Denkbar also, dass jeder berufstätige Mensch sein Pensionierungsalter selber bestimmen könnte. Was allerdings unabsehbare finanzielle und gesellschaftspolitische Auswirkungen hätte und wohl kaum in naher Zukunft realisierbar wäre. Eine ebenfalls im Moment noch utopisch erscheinende, aber theoretisch machbare und realisierbare Lösung könnte so aussehen: Jeder Mensch arbeitet nicht nur in einem, sondern in zwei Berufen, die er je halbtags ausübt. Der erste Beruf, das ist sein eigentlicher Wunschberuf, jener Beruf, in dem er seine ganz persönlichen Vorlieben und Begabungen ausleben könnte, jener Beruf, den er, wenn es möglich wäre, am liebsten zeitlebens ausüben würde. Der zweite Beruf, das ist ein Teil jener gesamtgesellschaftlichen «Bürde», die geleistet werden muss, wenn ein Gemeinwesen funktionieren soll: Produktion von Nahrungsmitteln, Landschaftspflege, Dienst an Kranken und Pflegebedürftigen, Strassenbau und Strassenunterhalt, usw. Der grosse Vorteil dieses Modells würde darin liegen, dass es nicht weiterhin privilegierte und benachteiligte Berufsgruppen gibt, sondern dass jeder und jede ihren Teil der gesamtgesellschaftlichen Bürde trägt, sich damit aber anderseits auch die Chance verdient, in seinem «Traumberuf» tätig zu sein.

Und was hat das mit dem Pensionierungsalter zu tun? Nun, im zweiten Beruf, dem «Dienst an der Gemeinschaft», könnte man dann zum Beispiel schon mit 60 Jahren in Pension gehen, während man den ersten, selber gewählten Beruf so lange ausüben könnte, wie man wollte. Und alles, sowohl die Lasten wie die Freuden, wäre gleichmässig auf alle verteilt.

Wer hat, dem wird gegeben…

Wer während seines Arbeitslebens höheren Belastungen ausgesetzt ist, hat nach dem Eintritt ins Rentenalter eine geringere Lebenserwartung. Das ist das Ergebnis einer Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg Essen. Nach Angaben der Studie können psychische und körperliche Belastungen während des Arbeitslebens und die Anzahl der Berufsjahre langfristig die Lebenserwartung ab 65 Jahren beeinflussen. Menschen mit höherer Bildung würden häufig besser verdienen und hätten deshalb vermutlich auch verträglichere Arbeitsbedingungen, so die Autoren. «Wer dagegen sehr hohen Arbeitsbelastungen ausgesetzt war, stirbt früher», schreibt die Universität in einer Pressemitteilung.

(www.spiegel.de)

Hat da noch jemand behauptet, das kapitalistische Arbeits- und Wirtschaftssystem sorge für sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit? Von wegen: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer nichts hat, dem wird gar noch das Letzte genommen, was er gerne hätte, nämlich einen geruhsamen Rest des Lebens…