Archiv des Autors: Peter Sutter

Endphase des Kapitalismus

Gemäss dem «Tagblatt» vom 24. Juli 2019 verdient Bernard Arnault, Hauptaktionär des Konzerns LVMH (Louis Vuitton Moet Henessy), sieben Millionen Dollar – pro Stunde! Und dies in einer Welt, in der eine Milliarde Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen. In den Museen des 22. Jahrhunderts werden die Menschen ungläubig vor den Schautafeln stehen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit zeigen, in der wir heute leben und die man wohl ohne Übertreibung als Endphase des Kapitalismus bezeichnen könnte…

Die soziale Apartheid im eigenen Land

Keine Schlagzeile wert, doch bittere Realität: Immer mehr Quartierbeizen, wo sich das «gewöhnliche» Volk früher zum Feierabendbier getroffen hat, verschwinden und machen teuren Luxusrestaurants für eine gutbetuchte Kundschaft Platz. Doch das ist längst noch nicht alles: Wohnungen werden luxussaniert und die Mieterinnen und Mieter, die dort 20 oder 40 Jahre lang gelebt haben, müssen ausziehen, weil sie sich die teurere Miete nicht mehr leisten können. Auch Golfplätze, Wellness- und Fitnesscenters, Luxushotels, Uhren- und Schmuckboutiquen, Privatschulen, Theaterhäuser, Zirkusse, Filmfestivals, Segelyachten, Kreuzfahrtschiffe, Freizeit- und Abenteuerparks, Nachtzüge: An allen diesen Orten steht ein unsichtbares, für die Betroffenen aber umso schmerzlicheres Schild: «Zutritt nur für Reiche!» Und so geht mitten durch unser Land eine unsichtbare Mauer zwischen denen, die genug Geld haben, sich das alles leisten zu können, und denen, die froh sein müssen, wenn sie am Ende überhaupt noch etwas zu essen haben. Und es ist sogar noch schlimmer: Während sich die Orte, zu denen nur die Reichen Zutritt haben, immer weiter ausdehnen, werden die Orte, zu denen auch die Armen Zutritt haben, immer seltener und immer kleiner. Empörten wir uns nicht vor vielen Jahren über die soziale Apartheid zwischen Schwarz und Weiss im damaligen Südafrika? Wo ist jetzt die Empörung, wo eine immer dickere Mauer der sozialen Apartheid mitten durch unser eigenes Land geht?

«Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, nicht die Menschen der Wirtschaft.»

Bei arbeitslosen Frauen und Männern ist die Häufigkeit von Suiziden ungefähr doppelt so hoch wie bei der Gesamtbevölkerung. Dies das Ergebnis einer Lausanner Studie, welche fast 20’000 Fälle von Suizid analysierte.

(SonntagZeitung, 21. Juli 2019)

Weshalb eigentlich lassen wir die Menschen um die Arbeitsplätze buhlen? Weshalb liefern wir sie einem gegenseitigen Konkurrenzkampf aus, in dem ausgerechnet immer die sowieso schon Schwächsten, welche gesellschaftliche Anerkennung am dringendsten nötig hätten, auf der Strecke bleiben? Weshalb tun wir nicht das Nächstliegende, nämlich, die insgesamt vorhandene Arbeit auf alle Menschen gleichmässig aufzuteilen – so, dass es niemanden mehr gibt, der sich mit unzähligen Überstunden zu Tode rackern muss, während andere überhaupt keine Arbeit haben und sich aus lauter Verzweiflung das Leben nehmen. Es wäre so einfach, wir brauchten nur in einen Ameisenhaufen zu schauen um zu erkennen, dass es die natürlichste Sache der Welt wäre: Keine Ameise ruht, alle arbeiten im gleichen Tempo, keine überarbeitet sich, keine verharrt untätig am gleichen Ort. Nun mag man gegen diese Idee einwenden, ein Betrieb könne, wenn er einen Elektriker brauche, ja nicht einen Gärtner anstellen. Doch auch dieses Problem lässt sich lösen – indem der Betrieb so umstrukturiert wird, dass er für den neu Eingestellten, auch wenn er nicht dem ursprünglichen Anforderungsprofil entspricht, dennoch eine sinnvolle Tätigkeit findet. Dagegen wiederum wird man einwenden, dass der Betrieb dann nicht mehr konkurrenzfähig wäre. Doch auch dieses Problem wäre lösbar, indem der Betrieb zum Beispiel für neu Eingestellte, die nicht dem ursprünglichen Anforderungsprofil entsprechen, staatliche Zuschüsse bekäme. Längerfristig wäre das aber keine befriedigende Lösung, sondern die gesamte Wirtschaft müsste so umstrukturiert werden, dass nicht mehr Profit und Konkurrenzprinzip an oberster Stelle stünden, sondern das Wohl der Menschen. Immerhin wäre dies bloss das, was sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wie auch die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unlängst gefordert haben: «Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, nicht die Menschen der Wirtschaft.» Wenn doch nur die Worte von Politikern und Politikern die Kraft besässen, unverzüglich, gegen sämtliche Verwässerung und gegen sämtliche Wenn und Aber Wirklichkeit zu werden…

Die Schweiz – ein Musterknabe?

Die Schweiz ist es gewohnt, gelobt zu werden. Als innovativer als alle andern, wettbewerbsfähiger als die meisten oder als Recycling-Weltmeisterin. Also nicht nur in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht, sondern auch beim umweltschonenden Umgang mit kostbaren Ressourcen erhält die Schweiz zuweilen Höchstnoten. Da kommt die Warnung der Bertelsmann-Stiftung im jüngst publizierten «Sustainable Development Report 2019» geradezu überraschend. Erst recht, da das Urteil happig ausfällt: Die Schweiz lebe stärker als jedes andere Land der Welt auf Kosten der anderen Länder. Niemand behindere die anderen so stark daran, die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO-Agenda 2030 zu erreichen. Die Bertelsmann-Stiftung ist nicht irgendwer. Und da mit Jeffrey Sachs einer der renommiertesten Ökonomen zu Fragen der nachhaltigen Entwicklung dem Bericht Pate steht, lässt sich das Verdikt nicht leichtfertig ignorieren. Die Schweizer Medien haben es dennoch getan und die schlechte Nachricht verschwiegen. Es geht in diesem Bericht um sogenannt negative Spillover-Effekte, die nationale Volkswirtschaften durch ihre Verflechtungen mit der Aussenwelt auslösen. Wie wirkt sich ihr Handeln für die Umwelt, die Wirtschaft, die Finanzen, die Gouvernanz und die Sicherheit der anderen Länder aus? Wie belastend sind die Produktions- und Konsumstrukturen für andere Länder – beispielsweise über Palmöl- oder Sojaimporte, wodurch Waldrodungen in tropischen Ländern verstärkt werden? Negativ ins Gewicht fallen auch Tiefsteuerpolitiken, die zur Veruntreuung von Staatsgeldern und zu Korruption verleiten. Bewertet wird auch das Engagement der reichen Länder bei der Entwicklungshilfe, damit sich die armen Länder aus der Armutsfalle befreien können. Im Bereich Sicherheit beurteilt die Bertelsmann-Studie beispielsweise negative Folgen der Exporte leichter Waffen und die Bemühungen für Konfliktprävention und Friedenssicherung. Solche Zusammenhänge haben die Spezialisten hinter dem «Sustainable Development Report 2019» für 160 Länder von Afghanistan bis Zimbabwe nach aktuellem Kenntnis- und Forschungsstand gewichtet. Die Schweiz kommt bei ihnen am schlechtesten weg, knapp vor Singapur. Mit grösserem Abstand folgt auf Rang drei Luxemburg, vor den Vereinigten Arabischen Emiraten, vor Mauritius, Zypern und den Niederlanden, vor Kuwait, Grossbritannien, den USA und Norwegen auf Rang 10. Auch wenn es im Bericht nicht ausdrücklich formuliert ist, liegt die Vermutung nahe, dass dessen Autoren nicht zuletzt von der Schweiz erwarten, dass sie künftig die anderen Länder weniger an der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele hindert.

(www.infosperber.ch)

 

Das zeigt, wie eng im weltweiten kapitalistischen Wirtschaftsgeflecht alles mit allem zusammenhängt. Und es zeigt weiter, dass der Reichtum eines Landes wie der Schweiz – über alle diese kapitalistischen Umverteilungsmechanismen – im Grunde ein «gestohlener» Reichtum ist, erworben auf Kosten anderer, die an ihrer Entwicklung gehindert werden und den Reichtum der Reichen mit ihrer Armut bezahlen. Dass dies vor 100 oder 500 Jahren so war, zu den Zeiten von Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, ist ja hinlänglich bekannt. Dass es aber heute immer noch so ist und die Schweiz bezüglich Profit auf Kosten anderer sogar den Spitzenplatz belegt, muss mehr als zu denken geben…

Subventionen für die Gastronomie

Urs-Beat Hauser (63) ist Hotelier aus Leidenschaft. Seit 1986 führt er in der dritten Generation das Hotel Belvedere in Grindelwald BE. 56 Zimmer hat das 4-Sterne-Superior-Haus. Hauser beschäftigt 48 Angestellte, ein Grossteil davon arbeitet Teilzeit. Die Berichterstattung über Branchen, die nur Tieflöhne bezahlen, hat ihn aufgewühlt. Der Hotelier meldet sich bei «Blick»: «Weil die Preise in der Schweiz höher sind als im Ausland, werden wir immer wieder als Abzocker bezeichnet und dafür kritisiert, dass wir zu tiefe Löhne bezahlen», sagt er. Und fügt dann an: «Dabei würde ich gerne jedem Angestellten einen Lohn von 5000 Franken bezahlen.» Bloss: «Dann müssten die Gäste bereit sein, tiefer in die Tasche zu greifen, wenn sie bei uns einkehren. Wer einen Tagesteller für 20 Franken anbietet, legt drauf.» Bei vielen Gastrobetrieben betragen die Lohnkosten bis 50 Prozent des Budgets. «Wir können einfach keinen Roboter zum Gast schicken, im Service braucht es Menschen. Und das ist auch ganz gut so», sagt er. Für Hauser ist klar: «Höhere Löhne in der Gastronomie sind nur möglich, wenn die Preise erhöht werden.» Konkret: Die Stange oder der Kaffee würden dann zehn Franken kosten. Der Tagesteller nicht mehr 20 Franken, wie heute in vielen Restaurants, sondern 50 Franken. «Wer einen Tagesteller für 20 Franken anbietet, der legt drauf. Und kann natürlich auch keine Spitzenlöhne zahlen», sagt er. Und fügt an: «Die Gäste würden wohl kaum zehn Franken für ein Bier bezahlen.»: Ein Zimmermädchen ohne Erfahrung verdient 3760 Franken brutto. Nach einigen Jahren sind es 4200 Franken. Eine Serviceangestellte startet im Hotel Belvedere nach der Lehre mit 4500 Franken brutto. H.S. hat als Abwascher angefangen, nach einem Barkurs ist er Barmann und verdient etwas über 4000 Franken. Ähnlich hoch ist das Salär von M.C., die als Office-Angestellte arbeitet. Und er selber, wird er reich als Hotelier? Hauser meint: «Ich kenne viele Wirte, bei denen die Mitarbeiter pro Stunde mehr verdienen, als sie selbst.» In der Gastronomie würden die Chefs meistens länger arbeiten als die Angestellten. Ganz wichtig: «Ohne eine grosse Portion Leidenschaft kann man diesen Job nicht so lange machen wie ich.»

(www.blick.ch)

Restaurants und Hotels sind elementare Stützen von Kultur, Tradition und Lebensqualität. Stätten, wo man es sich nach dem anstrengenden Alltag wohl ergehen lässt, wo man sich mit Freunden trifft, wo man sich kulinarisch verwöhnen lässt. Ein Dorf oder eine Stadt ohne Restaurant oder Hotel? Undenkbar! Und so wäre es nicht mehr als fair, wenn auch all jene, die in einem solchen Betrieb arbeiten und diesen unersetzlichen kulturellen Beitrag leisten, fair entlöhnt würden – die 5000 Franken, die Urs-Beat Hauser vorschweben, wären das Allermindeste. Dies wäre aber nur möglich, wenn Zimmer- und Essenspreise verdoppelt würden, was wiederum zur Folge hätte, dass sich nur noch Gutbetuchte das Essen in einem Restaurant oder die Übernachtung in einem Hotel leisten könnten. Die andere, bessere Möglichkeit wäre, Restaurants und Hotels zu subventionieren. Denn es leuchtet nicht ein, weshalb nur Schulen, Kirchen, Spitäler, Pflege- und Altersheime, Museen, Bibliotheken, Opernhäuser, Verkehrsmittel und die Landwirtschaft öffentliche Gelder in Anspruch nehmen dürfen, nicht aber die Gastronomie, die doch einen mindestens so grossen Beitrag leistet an die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Menschen.

Eine Ladengasse in Thionville: Die unsichtbare Hand des Kapitalismus

Abendspaziergang durch Thionville (F). In einer Seitengasse des Stadtzentrums: Mindestens zwei Drittel der Geschäfte haben dichtgemacht. Entweder sieht man durch verstaubte Fensterscheiben in Berge herabgerissener Wände, Kabel, Farbkübel. Oder die Rollläden sind bis zum Boden heruntergelassen. Oder die Schaufenster sind gänzlich mit Brettern zugenagelt. Oder an den Türen hängen Plakate wie «Geschlossen», «Ladenlokal zu vermieten», «Verkaufsflächen verfügbar». Man kann den vergangenen Glanz einer schmucken Ladengasse mit einem überaus vielfältigen Angebot an Waren und Dienstleistungen nur erahnen. In vier oder fünf Jahren, wenn auch das letzte Geschäft in der Gasse geschlossen sein wird, wird ein Stadtführer seiner Touristengruppe erklären, dass hier dereinst Tausende Menschen von Geschäft zu Geschäft flanierten, Auslagen bestaunten und sich im einen oder anderen Café zum gemütlichen Schwatz niederliessen…

Hat jemals ein Bürgermeister, ein Stadtarchitekt, ein Städteplaner oder die davon betroffenen Häuserbesitzer, Geschäftsführer, Verkäuferinnen, Verkäufer oder die Kundschaft eines Tages beschlossen, dieser Ladengasse den Garaus zu machen? Natürlich nicht. Es ist alles von «selbst» so gekommen. Aber was heisst das: von «selbst»? Es ist die Macht des Geldes. Der Sog nach immer mehr und immer grösser und immer billiger. Kurz: die unsichtbare Hand des Kapitalismus. Schon längst hat der Mensch das Ruder aus der Hand gegeben, nicht nur was einst blühende Ladengeschäfte in unseren Grossstädten betrifft. Auch was den Verkehr betrifft. Auch was die weltweit fluktuierenden Finanzströme betrifft. Auch was die weltweiten Daten- und Informationsnetze betrifft. Der Mensch hat das Ruder aus der Hand gegeben im Vertrauen, dass es etwas Besseres und «Höheres» gibt als den menschlichen Verstand, nämlich den Freien Markt. Und dass alles, wenn man nur so viel als möglich diesem Freien Markt überlässt, am Ende ganz bestimmt gut herauskommt. Ich bezweifle, ob die ehemaligen Ladenbesitzer in Thionville, die Verkäuferinnen und Verkäufer und ihre Kundschaft das auch so sehen…

Ein Strassencafé in Koblenz: So geht das im Kapitalismus

Ein Strassencafé in Koblenz. Dutzende von Tischen, rege Kundschaft. Ein reichhaltiges Angebot an Kuchen, belegten Broten, Getränken. Die Angestellte füllt gerade die Kaffeebohnen nach und wischt die Kaffeemaschinen blank. Dann noch rasch Besteck und Papierservietten nachfüllen, während ein Kunde vorne an der Kasse ungeduldig ruft, wo denn da die Bedienung sei. «Komme sofort!» ruft die Angestellte atemlos, rennt zur Kasse und bedient zwei Kunden. Den dritten wartet sie nicht mehr ab, der steht noch vor der Auslage mit den Kuchen, so hat sie eine kleine Lücke, die sie dafür nutzt, gebrauchtes Geschirr von ein paar Tischen abzuräumen. Jetzt steht der Kunde mit dem Kuchen an der Kasse und die Angestellte rennt gleich hin um ihn zu bedienen. Weit und breit sind keine weiteren Angestellten zu sehen, möglicherweise bereiten diese im Hintergrund die belegten Brote zu oder backen neue Kuchen. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie viel oder wie wenig die Angestellten, die hier arbeiten, verdienen. Ja, so geht das im Kapitalismus: Aus möglichst wenigen Menschen eine möglichst hohe Leistung herauszupressen und damit buchstäblich ans Limit zu gehen. Wenn die Kette, zu der dieses Café gehört, Ende dieses Halbjahrs einen grösseren Umsatz und einen grösseren Gewinn erzielen wird als im vorangegangen Halbjahr und wenn sich dann die Chefs und Aktionäre die Hände reiben angesichts des erzielten Geschäftsverlaufs, dann ist dies alles nur möglich dank dieser und zahlloser Angestellter, die vor lauter Stress und körperlichen Strapazen fast kaputt gehen und trotzdem fast nichts verdienen…

Neue Kräfteverhältnisse am Arbeitsplatz: Schöne neue Welt…

Die Angestellten grosser Finanzkonzerne in den USA bekommen eine erste Ahnung der sich wandelnden Kräfteverhältnisse am Arbeitsplatz bereits zu spüren. Hier wird etwa die Software einer Firma namens Cogito eingesetzt. Die erweist sich als relativ streng. Die Mitarbeiter im Callcenter reden zu schnell? Dann wird ihnen ein Tachometer-Bildchen auf den Screen projiziert. Sie klingen schläfrig? Dann taucht ein Kaffeetassen-Symbol auf. Das Programm befindet ihre Ansprache als zu wenig empathisch? Ein Herzchen weist auf den Mangel hin. Doch das ist erst der Anfang. KI soll in Zukunft für jeden Einzelnen für mehr Produktivität am Arbeitsplatz sorgen. Ganz vorne dabei ist etwa das von ehemaligen Google-Führungskräften gegründete Start-up Humu. Hier will man eine Software entwickelt haben, die Mitarbeitern und Führungskräften motivierende Anregungen gibt, die individuell auf die jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und Potenziale abgestimmt sind.

Auch am Karlsruher Institut für Technologie forscht man an einem Konzept, bei dem «KI-basierte Kompetenz-Assistenzsysteme künftig helfen sollen, konzentrierte Arbeitsphasen zu erhalten und Anstösse zur persönlichen und beruflichen Kompetenzentfaltung zu geben». Heisst im Klartext: Durch Messung von Herzfrequenz und Hautleitwert soll erkannt werden, wann ein Mensch die für ihn produktivste Phase erreicht. Wie man diesen sogenannten Flow erreicht und aufrechterhält, soll eine Software herausfinden, die angeblich bereits heute mit 85-prozentiger Genauigkeit den jeweiligen Glückspegel des betroffenen Angestellten erkennt. «Nudging» nennt man das: Eine übergeordnete Instanz, unwichtig ob Programm oder Personaler, soll dem im Zweifelsfall unmündigen Individuum einen «Schubser» in die richtige Richtung geben, um so ein erstrebenswerteres Verhalten hervorzurufen. Diesen fürsorglichen Paternalismus, den früher irgendwelche Wirtschaftsweisen oder Verhaltensökonomen ausübten, regelt in Zukunft eine künstliche Intelligenz. Dass man sich mit den Software-Anschubsern gefährlich an längst überkommene tayloristische Methoden annähert und das auch noch bewirbt, ist wohl schlicht der notorischen Vergangenheitsvergessenheit der Tech-Branche zu verdanken. Denn schon vor fünfzig Jahren wurde kritisiert, dass so der letzte Tropfen Gewinn nicht nur aus dem Körper, sondern auch aus dem «Charakter und der Seele» der Arbeiter gequetscht werde.

(www.tagesanzeiger.ch)

Fassungslos haben wir von den neuesten technologischen Entwicklungen in China Kenntnis genommen, wo die Menschen mit alles umspannenden Überwachungssystemen auf Schritt und Tritt kontrolliert und registriert werden und wo bereits in einzelnen Schulen mittels Gesichtserkennung festgehalten wird, ob die Schülerinnen und Schüler auch tatsächlich dem Unterricht mit Interesse folgen oder in Gedanken abschweifen. Und nun die USA. Und Deutschland. Und wohl immer mehr weitere Länder. Es scheint nun schon bald keine Rolle mehr zu spielen, ob man im kommunistischen China lebt oder im «freien« Westen – wie eine sich endlos vermehrende Krake werden Leben, Arbeit und sogar die Freizeit in ein immer engmaschigeres Netz elektronischer Überwachung, Steuerung und Kontrolle eingebunden und niemand steht da und gebietet dem Ganzen Einhalt. So ganz nach der Devise: Was technisch möglich ist, wird früher oder später auch realisiert, ethische Bedenken hin oder her. Schöne neue Welt… 

Buschauffeure in Genf und Basel: Ins Gebüsch oder in eine Flasche pinkeln

Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals schlägt Alarm. In Genf sei die Situation für Chauffeure von rund 15 Buslinien untragbar. So sei es diesen nicht möglich, während der Arbeitszeiten angemessene sanitäre Anlagen aufzusuchen. Rund 50 Mitarbeiter seien gezwungen, selbst zu sehen, wo sie ihre Notdurft verrichten können. Eric Marie ist selbst Chauffeur und bestätigt diesen Umstand. «Jeder tut, was er kann», sagt er. Das bedeutet, dass manche Kollegen sich im Gebüsch erleichtern oder in eine Flasche pinkeln, die sie dann in einem öffentlichen Abfalleimer entsorgen. Ein Beispiel für diese mangelnde Ausstattung ist die Endhaltestelle in Lancy, wo viele Bus- und Tramlinien enden. Früher waren hier mobile WC-Kabinen aufgestellt, diese wurden aber schon vor einiger Zeit entfernt. Die Mitarbeiter wurden daraufhin angewiesen, die Toiletten eines Einkaufszentrums zu benutzen. Diese sind aber weiter von der Station entfernt und nach Ladenschluss geschlossen. Marie berichtet: «Am anderen Ende einer dieser Linien müssen wir die Toilette einer Bar benutzen. Das ist aber peinlich und ich kaufe mir jedes Mal extra einen Kaffee. Das wird mit der Zeit teuer.» Andernorts wurden den Mitarbeitern Komposttoiletten zur Verfügung gestellt. «Diese waren aber nicht an den Strom angeschlossen und wir mussten dafür kämpfen, dass sie auch gereinigt wurden», erklärt Marie. Anfangs sei es gar nicht möglich gewesen, diese zu benutzen, da sie so verdreckt waren. Dieser Mangel an Toiletten wirkt sich laut der Gewerkschaft auch negativ auf die Sicherheit der Passagiere des öffentlichen Verkehrs aus. So vermeiden es Mitarbeiter wenn möglich, während der Arbeitszeit zu essen oder zu trinken. Dies könne zu Dehydrierung und Konzentrationsverlust führen. Ausserdem haben es Frauen so grundsätzlich schwerer in dem Beruf. Das Problem ist nicht nur in Genf bekannt. Im September 2018 reklamierten die Postauto-Chauffeure der Linie 50 von Basel zum Euro-Airport über unzulängliche Arbeitsbedingungen. Dort gäbe es zwar öffentliche Toiletten am Flughafen, diese seien für die Busfahrer aber zu weit entfernt und der Besuch würde zu Verspätungen im öffentlichen Verkehr führen. Daher werde am Flughafen oft ins Gebüsch gepinkelt. Auch dies hat verheerende Auswirkungen. Ein Bus-Chauffeur berichtet, dass er bereits Schwindelanfälle hatte und ihm im Feierabendverkehr die Augen zugefallen seien, weil er zu wenig gegessen und getrunken hatte.

(www.20minuten.ch)

Da wurde doch unlängst über unhaltbare Zustände in der US-Geflügelindustrie berichtet. Während des achtstündigen Arbeitstages gäbe es lediglich zwei Pausen, um ein WC aufzusuchen. Da nun aber alle Arbeiterinnen und Arbeiter gleichzeitig aufs WC gingen, müssten sie längere Zeit Schlange stehen. Immer wieder komme es daher vor, dass Arbeiterinnen und Arbeiter in die Hose pinkeln oder den Stuhlgang nicht mehr halten könnten. Deshalb trügen viele Angestellte während der Arbeit Windeln und würden zudem möglichst auf Essen und Trinken verzichten – was auch von den Vorgesetzten nahegelegt werde. Gravierend seien die gesundheitlichen Folgen: Das lange Zurückhalten von Urin könne besonders bei schwangeren und menstruierenden Frauen Blasenentzündungen hervorrufen. Und nun die Buschauffeure in Genf und Basel. Werden sie wohl auch schon bald während der Arbeit Windeln tragen? Was ist mit den über Jahrhunderte erkämpften Rechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Wird scheibchenweise nun alles nach und nach wieder dem unersättlichen Schrei nach immer grösserer Leistung in immer kürzerer Zeit geopfert? Was für Auswüchse und wie viel Leid braucht es noch, bis wir erkennen, dass hier nicht nur ein paar «Ausreisser» im Argen liegen, sondern ein ganzes Wirtschaftssystem, das sich in seiner Gier endloser Selbstvermehrung immer mehr in seine eigenen Widersprüche verstrickt?

 

Was ist «legal», was ist «illegal»?

Rund 70 Aktivisten und Aktivistinnen belagerten am Montagmorgen die Eingänge des Hauptsitzes der Crédit Suisse am Zürcher Paradeplatz. Die Zürcher Stadtpolizei rückte mit einem Grossaufgebot gegen diese illegale Aktion aus und verhaftete 64 Personen, die passiven Widerstand leisteten. Die Organisatoren der Aktion sagten, dass sie die Grossbank dazu bewegen wollten, von Investitionen in fossile Energien abzusehen. Die Form der Belagerung hätten sie gewählt, weil die Demonstrationen der Klimajugend ihrer Ansicht nach bis jetzt zu wenig bewirkt hätten.

(Tages-Anzeiger, 9. Juli 2019)

Was ist «legal», was ist «illegal»? «Illegal» ist es, durch eine Sitzblockade den Zugang zu einer Bank zu versperren. «Legal» hingegen ist eine Finanz- und Wirtschaftspolitik, die bewusst das Leben von Milliarden noch ungeborener Menschen aufs Spiel setzt – bloss, um hier und jetzt möglichst hohe Profite zu erzielen. Eigentlich müsste man nicht die 70 Aktivisten und Aktivistinnen, welche den Zugang zur Bank versperrten, ins Gefängnis werfen, sondern all jene Entscheidungsträger der Crédit Suisse, die dafür verantwortlich sind, dass ihre Bank weiterhin in Grossprojekte investiert, die in Bezug auf Klima und Ökologie unabsehbare, verheerende Folgen haben werden. Doch dass diese weiterhin auf freiem Fuss sind und nicht die Täter, sondern die Opfer kriminalisiert werden, dies hat damit zu tun, dass das kapitalistische Recht des Stärkeren tief in unser Denken eingemeisselt ist und wir noch weit entfernt sind von einem objektiven, nichtkapitalistischen Rechtsempfinden, in dem das Leben der Erde, der Natur, der Tiere und zukünftiger Generationen genau den gleichen Stellenwert hat wie die Freiheit und die Unversehrtheit des Individuums hier und jetzt.