Folgender Text ist ein Auszug aus meinem neuen Buch EINE BLUME IN DER NACHT – TAGEBUCH EINER AFGHANISCH-SCHWEIZERISCHEN BEGEGNUNG, in dem ich über meine Erfahrungen mit der “neuen Härte” der schweizerischen Asylpolitik berichte. Das Buch wird anfangs 2025 erscheinen. Mehr Informationen: info@petersutter.ch.
Alles Unheil begann am 12. Oktober 1492. Der Tag, an dem Christoph Kolumbus auf der karibischen Insel Guanahani landete und einen neuen Kontinent «entdeckte». Auf die Entdecker folgten unmittelbar die Eroberer, angelockt durch die sagenhaften Reichtümer Mittel- und Südamerikas: Gold, Silber, Edelsteine, fruchtbare Erde, auf der alles wuchs, was man sich nur erträumen konnte, Zucker, Reis, Baumwolle, Kaffee, Kautschuk, Tabak, Kakao, Gewürze, tropische Früchte aller Art. Es wurde zusammengerafft, was immer sich zusammenraffen liess, und eine endlos wachsende Menge an gewinnbringenden Produkten wanderte auf immer grösseren und zahlreicheren Schiffen zu den europäischen Häfen und Handelsstädten, wo mit dem Weiterverarbeiten, dem Verkaufen und der Vermarktung dieser Waren Reichtum geschaffen wurde, wie ihn die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Doch dies war erst der Anfang. Auf Süd- und Zentralamerika folgten Nordamerika, später Afrika, Indien, Süd- und Ostasien, unzählige Inseln im Pazifik, Australien und Neuseeland. Und zu Spanien und Portugal gesellten sich als weitere Kolonialmächte in der Folge vor allem England und Frankreich hinzu, aber auch Belgien, Holland, Italien, Deutschland und schliesslich auch die USA.
«Terra nullius» nannten die Europäer die von ihnen aufgefundenen Territorien: Niemandsland, das von dem in Besitz genommen und nach Belieben ausgeplündert werden durfte, der es als erster «entdeckt» hatte, denn die, welches es zuvor besessen hatten, waren aus der Sicht der Eroberer gar keine wirklichen Menschen, sondern eher so etwas wie Tiere, die zu beherrschen, zu domestizieren und deren Arbeitskraft bis zur totalen Erschöpfung und frühem Tod auszubeuten ihre neuen Herren und Gebieter geradezu als ihren «göttlichen Auftrag» betrachteten, dem sie so eifrig nachzukommen trachteten, dass sie nicht einmal vor den denkbar unmenschlichsten Grausamkeiten zurückschreckten. Schon fünfjährige Kinder wurden gezwungen, in den Silber- und Goldbergwerken Südamerikas zu schuften und meist eines viel zu frühen Todes zu sterben, wenn nicht durch Erschöpfung, dann durch das Einatmen giftiger Dämpfe, durch Gasexplosionen oder den Einsturz nur ganz notdürftig oder gar nicht gesicherter Schächte. Die Arbeitsbedingungen auf den Zuckerrohr-, Tabak- und Kaffeeplantagen waren derart hart, dass dies zu einer massiven Dezimierung der indigenen Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte führte, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Fehl- und Unterernährung immer weiter auszubreiten begannen, dadurch, dass auf den Böden, welche zuvor der Eigenversorgung der einheimischen Bevölkerung gedient hatten, fast nur noch Nahrungsmittel für den Export angebaut werden durften.
Unter den wohl schwersten je zuvor begangenen Menschenrechtsverletzungen wurden, nachdem ein grosser Teil der indigenen Arbeitskräfte in Mittel- und Südamerika weggestorben waren, im Laufe von rund drei Jahrhunderten 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner zu Zwangsarbeit auf Plantagen und in Bergwerken in Amerika verdammt, um jene Profite zu erschuften, die ausschliesslich in den Taschen der immer reicher werdenden europäischen Oberschichten landeten. Sklavinnen und Sklaven, die sich den unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu verweigern versuchten, wurden gekreuzigt, mit den Füssen an Bäumen aufgehängt, zu Tode gefoltert oder es wurde ihnen Schiesspulver in den After gestopft, das vor schaulustigen Mengen zur Explosion gebracht wurde.
Was die Spanier und Portugiesen in Mittel- und Südamerika vorgemacht hatten, wurde von den Engländern in Nordamerika weitergeführt, wo innerhalb von hundert Jahren praktisch die gesamte Urbevölkerung ausgerottet wurde. Indien verkam unter britischer Herrschaft durch gnadenlose Ausplünderung seiner natürlichen und wirtschaftlichen Ressourcen innerhalb von hundert Jahren von einem der reichsten zu einem der heute ärmsten Länder der Welt. Ganz Afrika nahmen sich die europäischen Kolonialmächte wie nimmersatte Raubtiere zum Frass vor. Im von Belgien unterjochten Kongo wurden Arbeitern, die bis zum Tagesende das geforderte Arbeitssoll nicht erreicht hatten, die Hände abgehackt. Ein Aufstand des von Deutschland versklavten Volks der Herero in Südwestafrika wurde gnadenlos niedergeknüppelt, die Aufständischen in Wüstengebiete vertrieben und von den Wasserstellen weggejagt, sodass Abertausende elendiglich verdursteten. Es war der erste grosse Völkermord des 20. Jahrhundert, den nur 15‘000 der ursprünglich 80’000 Herero überlebten.
Und so verwandelte sich nach und nach der Reichtum des von der Erde, der Natur und dem Klima gesegneten Südens in den Reichtum des Nordens, der in Anbetracht mangelnder Bodenschätze, wenig fruchtbarer Böden und unwirtlicheren Klimas eigentlich viel ärmer sein müsste, stets nach dem Prinzip, sich die Schätze des Südens kostenlos oder – durch möglichst niedrige Preise für Rohstoffe, Sklavenarbeit oder Hungerlöhne – zu möglichst günstigen Bedingungen anzueignen und sie hernach zu Fertigprodukten zu verarbeiten und diese auf dem Weltmarkt mit möglichst profitablen Renditen weiterzuverkaufen. Und das ist bis auf den heutigen Tag so weitergegangen. Kaufen wir bei Starbucks einen Kaffee für zehn Franken, so fliessen neun Franken und 95 Rappen in die Taschen von Handelsketten, Geschäftsbesitzern, multinationalen Konzernen und Börsenspekulanten, während die Landarbeiterin in Honduras, Kenia oder Madagaskar, die im Schweisse ihres Angesichts die Kaffeebohne erntet, von diesen zehn Franken gerade mal fünf Rappen sieht. Früher hatten alle Menschen in Afrika genug zu essen, während es in Europa immer wieder zu Hungersnöten kam. Heute ist es genau umgekehrt. Kein Kontinent leidet so sehr an Mangel- und Unterernährung wie Afrika, gleichzeitig landen in keinem Kontinent so viele Lebensmittel ungebraucht im Müll wie in Europa.
Doch das ist noch längst nicht alles. Dank der so entstandenen Profite konnten sich die Länder des Nordens im Gegensatz zu den Ländern des Südens auch die nötigen Mittel leisten, um ihre Privilegien gegen andere, die sie ihnen vielleicht hätten streitig machen können, abzusichern und zu schützen. Wirtschaftliche Vorherrschaft ging stets Hand in Hand mit militärischer Vorherrschaft und tut es bis heute. War Grossbritannien während 300 Jahren die Weltmacht Nummer eins – sowohl in wirtschaftlicher wie auch militärischer Hinsicht –, so sind es seit dem Zweiten Weltkrieg die USA. So ist es kein Zufall, dass die USA während der vergangenen rund 80 Jahre für die weitaus grösste Anzahl von – grösstenteils völkerrechtswidrigen – Militärschlägen und Kriegen verantwortlich sind, mit rund 50 Millionen Todesopfern und einer zehn Mal so hohen Anzahl Verletzter, dazu zahlreiche verdeckte, meist vom CIA durchgeführte Operationen, mit denen nicht wenige demokratisch gewählte Regierungen gewaltsam gestürzt wurden. Und es ist auch alles andere als ein Zufall, dass fast alle diese Kriege, von Vietnam über den Irak bis zu Afghanistan, Syrien und dem Sudan, in den Ländern des Südens stattfinden, nicht in den Ländern des Nordens, die genug Macht und Mittel besitzen, um dies zu verhindern. Und es ist wiederum auch kein Zufall, dass sich die Auswirkungen des Klimawandels genau in jenen Ländern am verhängnisvollsten auswirken, die sie – im Gegensatz zu den Industriestaaten mit ihrer wachstumsgetriebenen Produktion von Abgasen und Schadstoffen – am allerwenigsten verursachen. Nebst all den weiteren Verwüstungen, welche 500 Jahre koloniale Ausbeutung hinterlassen haben: Wassermangel, durch Pestizide und andere Chemikalien vergiftete Erde, durch Monokulturen ausgelaugte Böden, auf denen kaum mehr etwas wächst.
Geld ist Macht. Wer mehr Geld hat, hat nicht nur stärkere Waffen, er verfügt auch über die nötigen finanziellen und wirtschaftlichen Instrumente und Machtmittel wie etwa die Weltbank oder den IWF, die für jeden Kredit, den sie einem sowieso schon zutiefst entrechteten und ausgebeuteten Land leihen, einen so hohen Zins abverlangen, dass die Verarmung, die Fremdbestimmung und die Abhängigkeit dieser Länder nur immer noch grösser und grösser wird. In aller Regel verfügen die, welche mehr Geld und damit mehr Macht haben, auch über den grösseren Einfluss auf die Medien, welche weitgehend dazu dienen, die Macht der Mächtigen nicht allzu sehr in Gefahr zu bringen. Ein Beispiel: Jeden Tag sterben weltweit rund 10‘000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. Das von den Medien in der westlichen Welt verbreitete, in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung verankerte Bild, diejenigen, die zu wenig zu essen hätten, seien selber daran schuld bzw. lebten halt in Ländern mit unfähigen, korrupten Regierungen, seien in technischer Hinsicht hoffnungslos im Rückstand oder seien, im Gegensatz zu uns, immer wieder von besonders verhängnisvollen Naturkatastrophen betroffen, lenkt davon ab, dass alles nicht eine Frage der Mengen ist, sondern eine Frage der Verteilung. In jedem kapitalistischen System, ob klein oder gross, herrscht das Grundprinzip, dass Waren nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten brauchen, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um diese Waren zu kaufen, und sich deshalb dort die grössten Profite machen lassen. Das führt dazu, dass am einen Ort ein immer grösserer Mangel herrscht, während am anderen Ende immer neue, längst schon überflüssige Dinge erfunden und ausgedacht werden müssen, damit die Menschen überhaupt noch etwas kaufen. Auch das herrschende Justizsystem, das einseitig auf die Ahndung von Individualgewalt ausgerichtet ist und den Einfluss von Systemgewalt gänzlich ausblendet, ist Teil dieses allumfassenden Machtsystems. Um es wiederum an einem Beispiel zu verdeutlichen: Klaut ein Sozialhilfebezüger ein Paar Turnschuhe, dann wird der Sozialhilfebezüger verurteilt, nicht aber das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das so gravierende soziale Ungleichheiten zur Folge hat, dass eben nur ein stets am finanziellen Limit kämpfender Sozialhilfebezüger auf die Idee kommt, Turnschuhe zu klauen, gewiss aber nicht ein Bankdirektor, der ein so hohes Einkommen hat, dass er oft sogar nicht einmal mehr weiss, was er damit überhaupt anfangen soll.
Richtet man den Fokus auf die historischen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge, muss man unweigerlich zum Schluss gelangen, dass die reichen Länder des Nordens nur deshalb so reich sind, weil die armen Ländern des Südens so arm sind. All die Privilegien, welche die Menschen in den reichen Ländern geniessen, sind nichts anderes als die Frucht eines mindestens 500 Jahre andauernden Raubzugs, in dem der natürliche Reichtum des Südens in den künstlichen Reichtum des Nordens verwandelt wurde. Deshalb sind Flüchtlinge aus den Ländern des Südens, die in die Länder des Nordens «einzudringen» versuchen, nicht Menschen, die uns etwas «wegnehmen» wollen, sondern nur Menschen, die sich einen ganz winzigen Teil dessen zurückzuholen versuchen, was wir ihnen über Jahrhunderte, unter Anwendung unbeschreiblicher Gewalt, weggenommen haben. Würde sich diese Erkenntnis in der breiten Bevölkerung durchsetzen, hätten die SVP und alle anderen politischen Parteien, die ihre Argumentationen auf einer systematischen Täter-Opfer-Umkehr aufbauen, früher oder später keine einzige Stimme mehr. Aber die, welche heute noch an der Macht sind und ihre Privilegien einzig und allein jahrhundertelanger Ausbeutung und jahrhundertelangen Diebstahls verdanken, werden alles daran setzen, dies zu verhindern.