«Aus einer anderen Tasche genommen»

In drei Wochen wird im Kanton Bern darüber abgestimmt, ob die Sozialhilfebeiträge von derzeit 980 Franken pro Einzelperson und 2110 Franken für eine vierköpfige Familie um 8 Prozent auf 907 bzw. 1941 Franken gekürzt werden sollen. Mit diesem Geld müssen die Ausgaben für Lebensmittel, Kleider, Kommunikation und Körperpflege bestritten werden. Betroffene klagen, dass sie schon mit den heutigen Beiträgen kaum zurecht kämen und nicht selten während der letzten Woche des Monats nicht einmal für Lebensmittel etwas übrig bleibe, geschweige denn für irgendwelche Vergnügungen oder Extras. An vorderster Front kämpft Pierre Alain Schnegg von der SVP, Millionär und Berner Regierungsrat, für die Kürzung der Sozialhilfegelder. Es sei richtig, sagt er, dass der Staat in Notsituationen helfe, aber alles müsse massvoll sein. Wer vom Staat lebe, müsse halt auch auf gewisse Dinge verzichten. Im Vergleich mit gewissen Niedriglohnempfängern gehe es den Sozialhilfebezügern viel zu gut, und das sei ungerecht. Auch dürfe man nicht vergessen, dass alles, was der Staat bezahle, «aus einer anderen Tasche genommen» sei.

(Schweizer Fernsehen, «Rundschau», 24. April 2019)

Sozialhilfegeld sei «aus einer anderen Tasche genommen». Das sagt einer, der selber Millionär ist und eigentlich wissen müsste, dass so viel Geld in den Händen der Reichen nur deshalb zustande kommt, weil es in den Händen der Armen so schmerzlich fehlt – ein bisschen Nachhilfeunterricht in Ökonomie täte Herrn Schnegg wohl gut. Vielleicht würde er auch, wenn er seinen eigenen Speisezettel mit dem eines Sozialhilfebezügers vergleicht, nicht mehr davon reden, dass eine Reduktion der Sozialhilfe um 8 Prozent etwas «Massvolles» sei und dass, wer vom Staat lebe, eben auch auf gewisse Dinge verzichten müsste. Und ganz bestimmt käme er auch nicht mehr auf die verrückte Idee, Sozialhilfebezüger mit Tiefstlohnempfängern zu vergleichen und den Schluss zu ziehen, es sei ungerecht, wenn Sozialhilfebezüger mehr Geld zur Verfügung hätten als gewisse Tiefstlohnempfänger, wie wenn man eine Ungerechtigkeit mit einer anderen aufrechnen könnte, statt alle beide zu beseitigen.