Aufnahmeprüfung ans Gymnasium: Wenn vor lauter Lernen die Freude am Lernen verlorengeht…

“Wie viel sie büffeln, ist an der Prüfung egal” – so der Titel eines Artikels im “Tagesanzeiger” vom 24. Februar 2024 zum Thema der Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium im Kanton Zürich. Und der Titel nimmt schon die ganze Absurdität dieses “Auswahlverfahrens” vorweg: Tatsächlich könnten die Prüfungskandidatinnen und Prüfungskandidaten so viel Wissensstoff in sich hineinstopfen wie nur irgend menschenmöglich, sie könnten noch so teure Vorbereitungskurse für Tausende von Franken besuchen, sie könnten über Wochen bis um zwei Uhr nachts über den Büchern sitzen, ihren Schlaf auch mithilfe von Medikamenten oder Aufputschmitteln auf das absolute Minimum reduzieren oder überhaupt nicht mehr schlafen und auch noch die letzte geliebte Freizeitbeschäftigung aufgeben – am Ende kommt es immer auf das Gleiche heraus: Die Hälfte der Kandidatinnen und Kandidaten wird die Prüfung bestehen, die andere Hälfte nicht. Und weil das gegenseitige Gerangel naturgemäss immer heftiger wird, indem alle gezwungen sind, sich dem Tempo jener ganz vorne an der Spitze anzupassen bzw. dieses noch zu übertreffen, und sich dadurch immer alles mehr beschleunigt und der gegenseitige Konkurrenzkampf immer härter wird, nehmen auch alle damit verbundenen Leiden Abertausender Jugendlicher, die dadurch ausgerechnet in einer Lebensphase höchster Sensibilität dem vielleicht schlimmsten Härtetest ihres Lebens ausgeliefert sind, immer weiter und weiter zu.

Und dies mit den schlimmsten nur vorstellbaren Folgen für die betroffenen Jugendlichen: In Zeiten solcher Überbelastungen über viele Wochen oder gar Monate hinweg nehmen erfahrungsgemäss psychische Leiden und Erkrankungen massiv zu, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Rücken-, Kopf- und Bauchschmerzen, Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, Verlust jeglicher Lebensfreude, Abbruch sozialer Kontakte, Isolation, Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken. Sämtliche Studien, Befragungen und Statistiken belegen es und es wird von Jahr zu Jahr immer schlimmer. Schon gibt es erste Fälle von Suiziden, 14- oder 15Jährige, die sich aus lauter Angst vor der Aufnahmeprüfung ans Gymnasium das Leben genommen haben. Aber nicht einmal das scheint zu genügen, um all jene, die Jahr für Jahr diesen Wahnsinn organisieren und mitmachen, zur Besinnung zu bringen – nicht die Eltern, die zu einem überwiegenden Teil den gesellschaftlichen Druck unabgefedert an ihre Kinder weitergeben, nicht die Lehrkräfte, die das zerstörerische Spiel mitmachen, nicht die privaten Lerninstitute, die immer höhere Gewinne verbuchen, und nicht einmal die unzähligen Beratungsstellen, Schulpsychologinnen und psychiatrischen Einrichtungen, welche sogar indirekt noch davon profitieren, indem sie eine wachsende Zahl von Arbeitsplätzen ausschliesslich für diesen Zweck anbieten und finanzieren können. Das herrschende System einer so gnadenlosen “Selektion” auf dem Buckel von Kindern und Jugendlichen scheint ihnen allen so heilig zu sein, dass selbst Todesopfer, und dies aller Voraussicht nach in wachsender Zahl, in Kauf genommen werden. Im Gegenteil: Auf eine kritische Anfrage aus der Partei der Grünen im Zürcher Kantonsrat in Bezug auf das herrschende Übertrittsverfahren ans Gymnasium gab der zuständige Regierungsrat zur Antwort, das Zürcher Verfahren habe sich “wissenschaftlich gesehen als besonders effizient und fair erwiesen”.

Wie eine Krake hat sich dieser Wahnsinn mittlerweile schon über den ganzen Erdball ausgebreitet. Je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirken sich dann Selektionsverfahren an höhere Schulen unterschiedlich verheerend auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen aus. Ein besonders krasses Beispiel ist die indische Stadt Kota, auch “Stadt der Lerntoten” genannt. In Kota bereiten sich 16- bis 18Jährige, oft an sieben Tagen pro Woche und während bis zu 18 Stunden täglich, auf Prüfungen vor, die darüber entscheiden, ob sie an eine der Eliteuniversitäten zugelassen werden, die ein kostenloses Medizinstudium anbieten. Die Teenager, die hierherkommen, haben ihr gesamtes bisheriges Leben aufgegeben, die reguläre Schule geschmissen und büffeln nun in jeder wachen Stunde für die knallharten Aufnahmeprüfungen der Elite-Universitäten. Um einen solchen Ausbildungsplatz zu ergattern, geben die Eltern bis zu zwölf Prozent ihres Budgets aus. Jedoch stehen die Chancen der Kandidatinnen und Kandidaten, die in Kota pauken, von Anfang an schlecht: Rund 300‘000 Schülerinnen und Schülern stehen nur etwa 700 Plätze an den Eliteuniversitäten gegenüber, was einer Aufnahmequote von 0,25 Prozent entspricht. Diejenigen, die es nicht schaffen, stehen mit 18 Jahren vor den Scherben ihrer Träume und kehren völlig entmutigt, verzweifelt und ohne jegliches Selbstwertgefühl nach Hause zurück. Oft werden sie von ihren Eltern beschimpft, nicht selten auch brutal verprügelt, sind die Eltern doch mit der Tatsache konfrontiert, das viele Geld vergebens zum Fenster hinausgeworfen zu haben und haben ihre Kinder in Kota nichts gelernt, was ihnen in anderen, nicht akademischen Berufen von Nutzen sein könnte. Der Druck auf die Jugendlichen in Kota ist so gross, dass fast alle von ihnen unter Isolation, Magersucht und Depressionen leiden und sich allein im Verlaufe der vergangenen fünf Jahre 77 von ihnen das Leben genommen haben.

Wer behauptet, dies alles hätte auch nur im Entferntesten etwas mit Pädagogik, Bildung oder sinnvollem Lernen zu tun, muss schon sehr blind sein. Wenn Kinder gezwungen werden, gegenseitig so erbittert um ihre Zukunftschancen zu kämpfen, ist dies so ziemlich das extremste Gegenteil jenes zutiefst pädagogischen Anspruchs, jedes Kind und alle Jugendlichen auf ihren Wegen selbstbestimmten Lernens und individueller Persönlichkeitsentwicklung möglichst hilfreich zu unterstützen, so wie es der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren gefordert hat: “Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber.” Es widerspricht auch jeglicher lernpsychologischer Erkenntnis, wenn man von so etwas wie einem unbegrenzten Speichervermögen des menschlichen Gehirns ausgeht. Wenn ein Akku voll ist, kann man ihn auch nicht überladen. Wer schon am Limit ist, kann nicht mehr darüber hinauswachsen, im Gegenteil, wenn er dies versucht, erschöpfen sich seine Kräfte mit der Zeit dermassen, dass selbst das zuvor Gelernte und Gespeicherte wieder brüchig zu werden droht. Dies erklärt auch, weshalb auf Grund von vergleichenden Studien festgestellt werden konnte, dass Jugendliche, die sich zum Beispiel ausschliesslich zuhause mit einem älteren Bruder auf die Prüfung vorbereitet hatten, an der Prüfung in etwa gleich erfolgreich waren wie jene aus den Paukerkursen. Fast das Schlimmste aber ist, dass 99 Prozent dieser Prüfungsstoffe mit den Anforderungen der Lebenswelt und den Kompetenzen in Bezug auf eine spätere Berufsausbildung auch nicht das Geringste zu tun haben, sondern einzig und allein dem Zweck der Selektion im Hinblick auf den Übertritt an die höheren Schulen dienen, was nichts anderes heisst, als dass das auswendiggelernte Wissen mangels praktischer Anwendung sehr bald, wenn die Prüfung vorüber ist, auch schon wieder vergessen wird und somit all die dafür aufgebrachte Zeit und Energie sozusagen verschwendete und vergeudete, einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung geraubte Zeit und Energie gewesen war.

Besonders schlimm ist es für jene Hälfte aller Kandidatinnen und Kandidaten, welche die Prüfung nicht bestehen. Wie die Jugendlichen in Kota, die es nicht geschafft haben, stehen auch sie von einem Tag auf den andern vor einem riesigen Scherbenhaufen. All die Zeit, all die schlaflosen Nächte, all die Ängste, all die Hoffnungen – alles war vergebens gewesen, ein halbes Jahr oder länger, das nichts gebracht hat, das man geradezu auch hätte auslöschen können. Zwar werden die gescheiterten Jugendlichen in Zürich, Basel oder Genf, wenn sie wieder nachhause kommen, nicht so wie die Jugendlichen in Bombay oder Kalkutta von ihren Eltern verprügelt, aber die meisten der betroffenen Eltern werden doch mit ernsten Gesichtern ihre Enttäuschung kaum gänzlich verbergen können und auch das wird sich auf das Selbstwertgefühl und die Voraussetzungen im Hinblick auf möglichst erfolgreiches zukünftiges Lernen kaum sehr positiv auswirken. Und auch für die anderen, die “Erfolgreichen”, ist der Leidensweg ja noch längst nicht am Ende. Kaum ist die Prüfung bestanden, beginnt schon die Probezeit, erneut viele Prüfungen jede Woche, erneut stundenlange Hausaufgaben, erneut eine Unmenge an Wissensstoff, der mit dem Leben nur wenig zu tun hat, erneut der tägliche Kampf ums Überleben.

Eigentlich erstaunlich, dass sich sämtliche Anstrengungen, die Jugendlichen vor allzu grossen Belastungen im Hinblick auf die Übertrittsverfahren an höhere Schulen zu verschonen, trotz aller dieser negativen Erfahrungen bisher fast ausschliesslich auf reine Symptombekämpfung beschränkt und nicht das System als Ganzes radikal in Frage gestellt wird. Denn heute kann ja bereits jeder beliebige Beruf auch über den Weg einer Berufslehre mit entsprechender Weiterbildung erlernt werden – mit dem grossen Vorteil, dass eine Berufslehre im Gegensatz zum Gymnasium praktisches und theoretisches Lernen permanent sinnvoll miteinander verknüpft -, wodurch das klassische Gymnasium eigentlich schon längst überflüssig geworden und nur noch ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert ist, mit dem die Oberschicht ein Instrument in der Hand hatte, ihre eigenen Privilegien an die nächste Generation weiterzugeben. Dass dies heute immer noch so funktioniert, zeigt sich etwa darin, dass die Chance eines Kindes aus einer Arbeiterfamilie auf einen späteren akademischen Berufsweg nach wie vor sieben Mal kleiner ist als jene eines Kindes aus einer Akademikerfamilie. So ist nachvollziehbar, dass eine immer noch weitgehend privilegierte Oberschicht mithilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Einflussmöglichen und Machtmittel durchaus kein Interesse hat, dass sich am bestehenden, auf Selektion ausgerichteten Schulsystem grundsätzlich etwas ändert. Lieber setzen sie ihre Kinder einem brutalen gegenseitigen Konkurrenzkampf um Prüfungen, Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen aus, selbst wenn sie dabei ihre Gesundheit und im äussersten Falle sogar ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, statt sie einer Welt anzuvertrauen, in der alle Kinder und alle Jugendlichen die gleichen Chancen haben und alle mit der gleichen Freude und Begeisterung erfolgreich lernen können.

Zu behaupten, dass man in einer so einseitig auf Selektion und gesellschaftliche Auslese ausgerichteten Schule nichts lerne, wäre falsch. Aber entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, Kinder und Jugendliche lernten in der Schule vor allem rechnen, schreiben, lesen, viele weitere nützliche Fertigkeiten und ein grosses Wissen über die Geschichte, die Natur und viele andere Geheimnisse der Welt, lernen sie tatsächlich in erster Linie, dass man, um selber erfolgreich zu sein, vor allem hart und rücksichtslos gegen andere kämpfen und sich nicht allzu sehr um jene kümmern darf, die dabei auf der Strecke bleiben. Sie lernen, dass Egoismus belohnt wird. Sie lernen, dass es für jeden, der sich an die Spitze kämpft, einen anderen braucht, dessen Zukunftsträume früher oder später zerbrechen. Und so wächst nach und nach jede Generation in die Fussstapfen der vorangegangenen und alles bleibt so, wie es immer schon so war…

(Hinweis: In meinem voraussichtlich im Frühsommer 2024 erscheinenden Buch DIE SCHULE NEU ERFINDEN – DAMIT DAS LERNEN WIEDER FREUDE MACHT stelle ich der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklassenschule die radikal andere Vision einer offenen Welt des Lernens entgegen, in der alle Kinder und Jugendlichen frei, selbstbestimmt, erfolgreich und ohne miteinander verglichen zu werden, lernen können. Vorreservierung des Buchs: info@petersutter.ch)