Auch ohne Flugzeug lässt sich wunderbar reisen…

 

In einem Propagandavideo gegen das CO2-Gesetz, über welches in der Schweiz am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, steht Camille Lothe, Präsidentin der Jungen SVP Kanton Zürich, auf einem Steg am Zürichsee, wo gerade ein Schiff ablegt. “Wir Jungen”, sagt Lothe, “wollen die Welt erkunden, neue Freundschaften schliessen und andere Länder kennen lernen.” Doch wenn das CO2-Gesetz und damit eine neue Steuer von bis zu 120 Franken pro Flug angenommen werde, so Lothe, dann würde das Fliegen “für viele von uns, die nur ein kleines Budget haben, fast unmöglich”. Dabei, so Lothe, sollten doch alle die Chance haben, die Welt zu erkunden. Lothe verschweigt allerdings in ihrem Propagandavideo, dass ein Teil der Flugticketabgaben in der Höhe von 60 Franken pro Kopf und Jahr wieder an die gesamte Bevölkerung zurückverteilt werden soll. Und noch etwas verschweigt sie: Dass das Erkunden anderer Länder und die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen und Sprachen sehr wohl auch möglich ist, ohne sich mit einem Flugzeug fortzubewegen. Ich erinnere mich an meinen ersten Sprachaufenthalt in England, im Alter von 18 Jahren. Unvergesslich sind mir heute noch die Überfahrt von Calais nach Dover, die Klippen an der südenglischen Küste, das Eintauchen in eine neue Welt, die erste Begegnung mit meiner Gastfamilie, die Faszination, welche die englische Sprache in mir auslöste, die begeisternden Vorlesungen an der Sprachschule, die ich besuchte. Weiter erinnere ich mich an eine Reise, die ich, zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher, im Jahre 1976 unternahm. Wir hatten die verrückte Idee, vom Bodensee dem Rhein entlang und dann über die Alpen bis nach Bellinzona zu wandern, rund 300 Kilometer in zwei Wochen. Das stundenlange Wandern mit schweren Rucksäcken, die Vielfalt und der Wechsel der Landschaften, der Siedlungen und der Natur, das Übernachten im Heuschober, unter Garagendächern oder im Freien – all das wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Und dann kam, zusammen mit meiner Frau, die Zeit der grossen Radtouren, jeden Sommer, quer durch die Schweiz, Deutschland und Frankreich. Allein über die Fahrt von der Neissequelle in Tschechien bis an die Ostsee könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Mittlerweile bin ich über 71 Jahre alt und bereue es keinen Moment, nie in Amerika, Afrika, auf Bali oder auf den Malediven gewesen zu sein. Das Reisen mit dem Flugzeug, für viele von uns zur Selbstverständlichkeit geworden, ist kein Menschenrecht, sondern ein Privileg, von dem über 90 Prozent der Weltbevölkerung ausgeschlossen sind. Nicht Flugticketabgaben sollten unser Reiseverhalten steuern, sondern der gesunde Menschenverstand. Und dieser sagt uns, dass das Reisen mit dem Flugzeug zu reinen Privat- und Vergnügungszwecken auf diesem Planeten schlicht und einfach keine Zukunft hat. Zugegeben, der Umbau der Flugbranche wird äusserst schmerzlich und kostspielig sein. Aber die weltweiten Schäden, welche die Klimaerwärmung zur Folgen haben wird, werden tausend Mal schmerzlicher und kostspieliger sein. Vielleicht ist diese Erkenntnis selbst an der jungen SVP-Politikerin nicht ganz spurlos vorbeigegangen. Schliesslich steht sie in ihrem Propagandavideo nicht am Flughafen Kloten, sondern am Zürichsee. Und es gibt in der Schweiz noch weitere rund 1500 Seen. Wir müssten sehr, sehr lange leben, um sie alle kennenzulernen, uns an ihren Ufern zu tummeln, sie zu durchschwimmen, sie zu Fuss oder per Fahrrad zu umrunden. Ja, das Schöne liegt in nächster Nähe, man muss es nur sehen…