“Atlas Shrugged”, zurzeit zu sehen am Zürcher Schauspielhaus, ist eine radikale Polemik gegen sozialstaatliche Errungenschaften, ausgehend von der Frage, was denn geschähe, wenn nicht die 99 Prozent streikten, die klagen, zu kurz zu kommen, sondern das obere eine Prozent der Eliten. Die Antwort: Das obere eine Prozent ist der wahre Titan unserer Gesellschaft, lässt er seine Arme sinken, bricht das Himmelsgewölbe über uns allen zusammen.
(Barbara Bleisch, Tages-Anzeiger, 21. Januar 2020)
Der dem Theaterstück zugrundeliegende Roman “Der Streik” gehört zu den einflussreichsten Büchern der Geschichte, verkauft sich millionenfach und gilt bereits als Bibel der Libertären und der Silicon-Valley-Tycoons. Es scheint, dass sie alle es mehr als nötig haben, ihr schlechtes Gewissen reinzuwaschen. Denn in Tat und Wahrheit trifft natürlich genau das Gegenteil dessen zu, was “Atlas Shrugged” vorzugaukeln versucht: Nicht das obere Prozent der Gesellschaft ist es, auf dessen Schultern alles ruht, sondern die anderen 99 Prozent. Man stelle sich nur einmal vor, alle Köche, Bauarbeiter, Pflegerinnen, Landarbeiter, Lastwagenfahrer, Fabrikarbeiterinnen und Bäcker träten von einem Tag auf den andern in einen weltweiten Generalstreik – die gesamte Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft brächen unmittelbar zusammen. Würden zum Beispiel all jene Minenarbeiter Afrikas, welche die unentbehrlichen Rohstoffe für unsere Computer, Laptops und Smartphones aus dem Boden schürfen, sich eines Tages weigern, ihre Arbeit weiterzuführen – wie würde das obere Prozent dann noch miteinander kommunizieren, wie würde man Firmen verwalten, Finanzgeschäfte tätigen, Produktionsabläufe steuern? Doch dies ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie sehr sämtliche Tätigkeiten, welche vom oberen einen Prozent verrichtet werden, auf die Arbeit der unteren 99 Prozent angewiesen sind. Das zutiefst Ungerechte an alledem besteht darin, dass die unteren 99 Prozent nicht nur alle diese elementaren, unentbehrlichen Tätigkeiten Tag für Tag zuverlässig verrichten, sondern dass diese Tätigkeiten in aller Regel auch überdurchschnittlich anstrengend, oft sehr eintönig und nicht selten auch gefährlich sind, dennoch schlechter bezahlt werden und weit weniger gesellschaftliches Ansehen und Wertschätzung geniessen als die Tätigkeiten, welche vom oberen einen Prozent verrichtet werden. Ist die kapitalistische Welt nicht schon ungerecht genug? Soll sich eine kulturelle Institution wie das Zürcher Schauspielhaus tatsächlich dazu hergeben, diese Ungerechtigkeit zu beschönigen und zu glorifizieren – statt sie kritisch zu durchleuchten und Wege zu einer besseren, gerechteren Gesellschaft aufzuzeigen?