“Arena” über steigende Gesundheitskosten: Doch weshalb eigentlich werden die Menschen krank?

 

In  der Diskussionssendung “Arena” vom 10. Juni 2022 am Schweizer Fernsehen geht es um die Problematik der von Jahr zu Jahr steigenden Gesundheitskosten sowie der Belastung durch die ebenfalls jährlich steigenden Krankenkassenprämien, insbesondere für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen. Obwohl sich alle einig sind, dass diese Missstände möglichst bald wirksam bekämpft werden müssen, zeigen sich bei den Lösungsvorschlägen der verschiedenen Akteure und Akteurinnen von der Ärzteschaft bis zu den Krankenkassen, von der SVP bis zur SP so grosse Unterschiede, dass es wohl noch gewaltiger politischer Anstrengungen bedarf, um das Problem in den Griff zu kriegen. Erstaunlicherweise spricht aber niemand von den eigentlichen Ursachen des Problems. Nämlich davon, weshalb die Gesundheitskosten dermassen in die Höhe schnellen. Das hat ja nicht nur mit Ärztehonoraren, Tarifordnungen und Behandlungsmethoden zu tun, sondern vor allem mit den Gründen, die dazu führen, dass Menschen überhaupt krank werden und einer ärztlichen Behandlung bedürfen. Schaut man sich die Palette möglicher Erkrankungen etwas genauer an, so fällt auf, dass ein grosser Teil davon dem Bereich sogenannter “Zivilisationskrankheiten” zuzurechnen ist, so zum Beispiel Herz- und Gefässkrankheiten, Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht, Lungen- und Darmkrebs, verschiedene Hauterkrankungen, Rückenleiden, Depression und Burnout. Alle diese Erkrankungen treten in den industrialisierten Ländern des globalen Nordens um ein Vielfaches häufiger auf als in den Ländern des globalen Südens und müssen folglich einen starken Zusammenhang haben mit der Art und Weise, wie wir leben und arbeiten. Im Klartext: Es ist die kapitalistische Wirtschaft und Arbeitswelt mit dem Konkurrenzprinzip und dem sich selber beschleunigenden Zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr zu leisten und zu produzieren, welche einen grossen Teil jener physischen und psychischen Leiden verursacht, welche die Gesundheitskosten immer weiter in die Höhe treiben. So etwa kann Leistungsduck zu Stress sowie zu Herz- und Gefässerkrankungen führen, während einseitige körperliche Belastungen wie zu langes Sitzen die Ursache für Rückenleiden oder aber, etwa bei Bauarbeitern, für Arthrose und andere körperliche Abnützungserscheinungen sein können. Auch Arbeitsunfälle sind oft eine ganz direkte Folge von körperlicher Überlastung, Stress und fehlenden Ruhe- und Erholungsphasen. Übermässige Arbeitsbelastung, permanente Überzeiten oder die Belastung durch zu grosse Verantwortung können früher oder später ein Burnout zur Folge haben. Doch nicht nur zu grosse Arbeitsbelastung und zu viel Stress wirken gesundheitsgefährdend. Das Gleiche gilt auch für das Gegenteil, für Arbeitslosigkeit und den Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe. Viele Erwerbslose leiden häufig unter Depressionen und Existenzängsten und versuchen nicht selten, ihre fehlende Lebensperspektive durch massloses Essen, hohen Zuckerkonsum oder andere Suchtmittel wie Nikotin oder Alkohol zu kompensieren. Doch nicht nur zu viel Arbeit auf der einen Seite, Arbeitslosigkeit auf der anderen sind krankmachende Faktoren, sondern, mindestens so sehr, die soziale Ungleichheit, ebenfalls eine Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, welches eine permanent sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich verursacht: Zahlreiche Studien über viele Jahre sind stets übereinstimmend zum Schluss gekommen, dass zwischen dem Gesundheitszustand und dem Einkommen der Bevölkerung ein enger Zusammenhang besteht: Je geringer das Einkommen, umso schlechter der Gesundheitszustand. Das ist leicht zu erklären: In diese Kategorie fällt zunächst ein grosser Teil der Erwerbslosen mit den bereits erwähnten Auswirkungen auf die Gesundheit. Dann aber auch Einkommensschwache, die meist Jobs mit besonders belastenden Arbeitsbedingungen verrichten, trotzdem wenig verdienen, sich aus finanziellen Gründen schlecht ernähren, kein Geld für gesundheitsfördernde Freizeitaktivitäten haben, unter grösserem Stress und auch ausgeprägterem Suchtverhalten leiden und in lärmgeplagten Wohnungen an dichtbefahrenen Strassen mit schlechter Luftqualität leben müssen, weil sie sich eine teurere Wohnung schlicht und einfach nicht leisten können. Eigentlich müsste jede ernsthafte Diskussion über steigende Gesundheitskosten eine Diskussion über den Kapitalismus sein – über den Kapitalismus, der dazu führt, dass die einen Menschen viel zu viel arbeiten müssen und deshalb krank werden, und die anderen überhaupt nicht arbeiten dürfen und ihrerseits ebenfalls krank werden. Über den Kapitalismus, der dazu führt, dass die einen Menschen so reich sind, dass sie sich ein langes Leben in Glück und Wohlstand leisten können, während die anderen dazu verdammt sind, mit schwerer Arbeit ihre Gesundheit zu opfern und am Ende sogar noch damit bestraft werden, weniger lange leben zu dürfen. Dass eine ganze “Arena” lang über Vor- und Nachteile von Finanzierungsmodellen, Tarifordnungen, Ärztehonoraren und Prämienverbilligungen diskutiert wird, ohne je auch nur ein einziges Mal auf die systembedingten Ursachen von Krankheiten und Gesundheitskosten zu sprechen zu kommen, ist wohl nur damit zu erklären, dass wir alle den Kapitalismus so sehr verinnerlicht haben, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorstellen können – wie der Wald, den man vor lauter Bäumen schon gar nicht mehr sieht. Höchste Zeit, den Blick zu öffnen, das System zu hinterfragen. Denn es sind ja nicht nur die Menschen, die krank werden. Es ist auch die Natur. Es sind auch Abermillionen von Menschen in den Ländern des globalen Südens, die unter Hunger leiden. Und es ist, wenn wir an den Klimawandel denken, in letzter Konsequenz, auch die Menschheit als Ganzes. Entweder ist alles gesund oder es ist alles krank. Vorläufig versuchen wir noch verzweifelt, die durch den Kapitalismus entstandenen Probleme mit kapitalistischen Massnahmen zu lösen, doch dies hat früher oder später keine Zukunft. Denn, wie schon Albert Einstein wusste: “Man kann Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.”