Arbeiten in der Gastronomie: “Manchmal fühlst du dich nur noch wie ein Stück Scheisse”

 

Jetzt ist sie schon seit zwölf Stunden auf den Beinen und immer noch ist kein Ende in Sicht. In der dicht gedrängten Bar wird das Servieren zum Spiessrutenlauf. Immer wieder wird sie von Gästen angerempelt und statt einer Entschuldigung kommen meist nur anzügliche Sprüche. Männer, die ihr an den Hintern fassen oder ihr an die Haare greifen, sind keine Seltenheit. Und je länger die Nacht dauert, umso schlimmer wird es, umso unerträglicher der Lärm, umso ungeduldiger die Gäste, die ihr fünftes oder sechstes Bier am liebsten schon auf dem Tisch hätten, bevor sie es noch bestellt haben, umso grösser die Schmerzen in den geschwollenen Füssen und in den Beinen. Gleichzeitig türmen sich hinter dem Tresen Berge von Gläsern, die zwischendurch abzuwaschen sind, während sie schon weiss, dass dies die Ungeduld der Gäste erst recht zum Explodieren bringen wird. Und seitdem eine ihrer Arbeitskolleginnen vor einer Woche gekündigt hat, ist alles doppelt so schlimm. Vierzehn Stunden und nicht einmal die Sperrstunde bringt die ersehnte Erlösung. Am Tresen hängen hartnäckig eine Handvoll Besoffene herum und sie weiss schon jetzt: Diese wird sie nicht so schnell fortbringen, also stellt sie sich schon drauf ein, an die vierzehn Stunden noch eine oder zwei weitere Stunden anhängen zu müssen. Denn sie weiss: Will sie diese letzten Gäste zum Fortgehen bewegen, muss sie schon mal damit rechnen, dass der eine oder andere von ihnen handgreiflich werden könnte. Sie hat einen der härtesten Jobs und verdient doch kaum mehr als das, was sie zum Überleben braucht. Dazu kommen die Arbeitszeiten am Abend, in der Nacht und am Wochenende, die es ihr verunmöglichen, Freundinnen und Freunde zu treffen und ihre Freizeit ebenso lustvoll und entspannt zu verbringen wie all die Besucherinnen und Besucher ihrer Bar, denen sie genau dies ermöglicht. “Es gibt kaum eine Branche, in der die Gegensätze so unvermittelt und doch so verdeckt aufeinanderprallen wie in der Gastronomie”, schreibt die “Wochenzeitung” am 6. Dezember 2018, “hier der kulinarische Genuss, die inszenierte Leichtigkeit, das scheinbar ewige Lächeln der Angestellten, dort, hinter der Oberfläche, der Stress, die schlechte Bezahlung, die gesundheitliche Belastung. Ein Schleier zwischen zwei Welten, der aufrechterhalten werden will, denn schliesslich geht es um das Geschäft.” Knallhart hätte es die Serviceangestellte A.N., so die “Wochenzeitung”, auf den Punkt gebracht: “Genug ist genug, ich kann nicht mehr. Die Kündigung war eine richtige Befreiung. Zuletzt habe ich mich nur noch wie ein Stück Scheisse gefühlt.” Würde man ein Kind, das sich noch nicht an die Absurditäten und Verrücktheiten der kapitalistischen Arbeitswelt gewöhnt hat, fragen, wer denn nun einen höheren Lohn erhalten sollte, die Serviererin im Nachtclub oder der Bankangestellte, der täglich acht Stunden in seinem Büro sitzt und für den der freie Abend ebenso selbstverständlich ist wie das freie Wochenende, dann würde das Kind zweifellos sagen, dass die Serviererin den höheren Lohn bekommen sollte. Die Macht der Gewohnheit hat uns blind gemacht, hat das Verrückte zum Normalen werden lassen und umgekehrt. Das betrifft nicht nur die Serviererin im Nachtclub, es betrifft genauso die Bauarbeiter, die bei Hitze und Kälte und jedem Wetter unsere Häuser bauen, die Krankenpflegerinnen, die bis zur Erschöpfung von Krankenbett zu Krankenbett eilen und es dennoch nicht schaffen, den Bedürfnissen aller ihrer Patientinnen und Patienten gerecht zu werden, die Zimmermädchen in den Hotels, die unter dem unaufhörlichen Renditezwang des Hotelbesitzers eine immer grössere Anzahl von Zimmern in immer kürzerer Zeit bewältigen müssen. Eigentlich wäre es einfach: Man müsste nur alles auf den Kopf stellen und denen, die am wenigsten verdienen, den grössten Lohn geben und umgekehrt – und schon wäre die Welt in Ordnung. Nur weil es seit der Zeit der Sklaverei immer schon so war, wie es heute ist, scheint uns dieser Gedanke so fremd und so weit hergeholt. “Der niedrige Lohn”, sagte schon Karl Marx, “beruht auf der fehlenden politischen Macht der Arbeiterschaft, den wahren Wert ihrer Arbeit zu ertrotzen.” Wenn Gewerkschaften es schon als Sieg verbuchen, wenn sie Lohnerhöhungen von zwei oder drei Prozenten in dieser oder jener Branche erkämpft haben, während sich gleichzeitig die Unterschiede zwischen höchsten und niedrigsten Einkommen auf das bis zu Dreihundertfache belaufen, dann zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie weit wir tatsächlich immer noch von so etwas wie sozialer Gerechtigkeit entfernt sind. So ist nicht verwunderlich, wenn uns gerade aktuell immer öfters Berichte erreichen, wonach es gerade in den Tieflohnbranchen zunehmend an Arbeitskräften mangelt. Eine Demonstration der anderen Art. Gingen früher Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Strasse oder traten sie in einen Streik, um für ihre Rechte zu bekämpfen, drehen sie heute ganz einfach der ungeliebten Arbeit den Rücken zu. Vielleicht gar nicht die schlechteste Methode, um uns aus dem Schlaf der Selbstgerechten zu wecken. Denn spätestens, wenn die letzte Serviererin im letzten Nachtclub das letzte Bier serviert hat, werden wir wohl erkennen, dass bei der Art und Weise, wie die kapitalistische Arbeitswelt organisiert worden ist, etwas ganz Grundsätzliches ganz gründlich schief gelaufen ist…