Arbeit auf Abruf: Und das im reichsten Land der Welt

Die 28-jährige Portugiesin C. lebt seit eineinhalb Jahren in der Schweiz. Sie reinigt Wohnungen, Treppen, Eingangsbereiche privater Häuser. Der Mindeststundenlohn gemäss Gesamtarbeitsvertrag beträgt 18.80 Franken. Bei der erlaubten Höchstarbeitszeit von 42 Stunden macht das bescheidene 3158 Franken pro Monat. «Wie viele Stunden ich im Monat arbeite, ist völlig unterschiedlich», sagt C. «Ich weiss es nie im Voraus.» Ihr Chef informiere sie immer erst am Abend vorher oder sogar am Morgen früh per Telefon oder SMS, wo sie sein müsse. Und: «Er sagt oft zwei Stunden vorher die Arbeit wieder ab, die er mir vorher zugesagt hat, und zahlt dafür keinen Lohn. Es kam sogar schon vor, dass er mich morgens um fünf Uhr anrief, dass ich um 7 Uhr nicht kommen müsse.» Da war sie manchmal schon auf dem Weg zur Arbeit – und erhielt trotzdem keinen Lohn. Auch rechnete der Arbeitgeber die Reisezeiten von einem Kunden zum anderen nicht als Arbeitszeit an. «Ich habe praktisch kein Privatleben. Ich kann keine Freundschaften pflegen, nichts abmachen.» Noch schlimmer sind die finanziellen Folgen: In schlechten Monaten kann sie kaum ihre festen Kosten zahlen. «Ich muss mich stark einschränken, sogar beim Essen.» Kino, Theater, der ersehnte Deutschkurs – all das liegt nicht drin. C. ist desillusioniert: «Ich dachte immer, in der Schweiz sei alles gut organisiert, und die Regeln würden eingehalten. Jetzt habe ich ein anderes Bild.» C. ist mit ihrem Schicksal nicht allein. Unsichere Arbeitsverhältnisse, die zu wenig Lohn zum Leben bringen, nehmen in der Schweiz zu. Das zeigt eine Studie, die das Forschungsunternehmen Ecoplan Ende 2017 im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft veröffentlicht hat. Noch 2010 waren 100’000 Personen in einem prekären Arbeitsverhältnis. Bis 2016 war diese Zahl auf 113’000 angestiegen. Prekäre Arbeitsverhältnisse finden sich vor allem im Gastgewerbe, im Immobiliensektor und bei den sonstigen Dienstleistungen. Dazu zählt das Reinigungsgewerbe. Ein besonderes Problem besteht bei der Reinigung von Hotels. M., eine Spanierin, die in einer grossen Hotelkette in Zürich arbeitet, sagt: «Oft werden wir aufgeboten, aber wenn die Gäste die Zimmer noch nicht verlassen haben, können wir nicht anfangen mit Putzen. Manchmal müssen wir zwölf Stunden vor Ort sein, bezahlt ist aber nur die Hälfte, also dann, wenn wir tatsächlich putzen.»

(Sonntagszeitung, 5. Mai 2019)

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