Amin, Ela, Baran und Aziz: Eine afghanische Flüchtlingsfamilie und wie sich mein Leben in so kurzer Zeit so tiefgreifend verändert hat…

Amin und Ela mit ihren beiden Buben, dem viereinhalbjährigen Baran und dem eineinhalbjährigen Aziz, sind vor drei Wochen bei mir eingezogen. Seither ist mein Haus, das nach dem Auszug unserer drei Kinder und dem Tod meiner Frau vor fünfeinhalb Jahren für mich alleine viel zu gross gewesen war, zum ersten Mal wieder voller Leben. Aziz kann von den Kirschen, die jetzt nach und nach reif werden, gar nicht genug bekommen. Baran spielt am liebsten mit dem roten Spielzeugferrari und hat schon einen Riesenturm aus Legosteinen gebaut. Ela hat die paar wenigen Kleidungsstücke und den Schmuck, den sie vor vielen Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen und nun auf die Reise in die Schweiz mitgenommen hat, fein säuberlich in ihrem neuen Zuhause eingeräumt. Die grosse Schiefertafel beim hinteren Hauseingang ist voll mit von Amin gezeichneten persischen Schriftzügen, ein richtiges kleines Kunstwerk. Und auf dem Küchentisch steht ein noch warmer afghanischer Kuchen, dessen Duft das ganze Haus durchströmt. Schon lange nicht mehr hat sich mein Leben in so kurzer Zeit so stark verändert.

Obwohl sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im Juli 2021 weiter verschlechtert hat, weisen die Schweizer Behörden, wie “Swissinfo” am 6. April 2023 berichtete, weiterhin die überwiegende Mehrheit der schutzsuchenden Afghaninnen und Afghanen ab – eine Politik, die in krassem Gegensatz zur grosszügigen Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge steht. Wer eine Chance haben will, aus Afghanistan in ein europäisches Aufnahmeland zu gelangen, muss zunächst, wie das inzwischen über 1,6 Millionen Menschen getan haben, über die Grenze in den Iran oder nach Pakistan fliehen und dort ein humanitäres Visum beantragen. Doch die Hürden sind hoch. So wurden im Jahr 2022 von sämtlichen von Afghaninnen und Afghanen für die Einreise in die Schweiz beantragten humanitären Visa gerade mal 5,5 Prozent bewilligt. Antragstellende müssen eine unmittelbare, individuelle, konkrete und ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben nachweisen, die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe wie Frauen oder Mädchen reicht nicht. Zudem müssen sie einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben, etwa durch Verwandte oder einen früheren Aufenthalt im Land. Doch auch für all jene, welche es nach Überwindung aller dieser Hürden schliesslich bis in die Schweiz geschafft haben, ist die Zukunft immer noch ungewiss: Im Jahre 2022 erhielten von sämtlichen in der Schweiz Asyl suchenden Afghaninnen und Afghanen nur 533 eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), 2’274 eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung (Ausweis F) und 1’231 Anträge wurden abgewiesen. Personen mit einer F-Bewilligung sind mit Einschränkungen bei Reisen ins Ausland, bei der Sozialhilfe und bei der Familienzusammenführung konfrontiert, zudem schreckt der Status der befristeten Bewilligung potenzielle Arbeitgeber ab. Eine F-Bewilligung bedeutet, nie sicher zu sein, dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können.

Amin, Ela, Baran und Aziz gehören zu den wenigen Glücklichen, die es geschafft haben, eine B-Aufenthaltsbewilligung zu bekommen und dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Doch auch ihr Weg war steinig. Auch sie tragen schwere Wunden. Amin musste mit ansehen, wie Elas Eltern beim Verlassen einer Moschee, wo er auf sie gewartet hatte, vor seinen Augen von Talibankämpfern niedergeschossen wurden, seine geliebten Schwiegereltern, einfach so beide innerhalb einer Sekunde tot. Alle, so Amin, hätten vor allen anderen Angst, keiner traue einem andern über den Weg – ein permanenter Schockzustand. Käme einem jemand auf der gegenüberliegenden Strassenseite entgegen, wisse man nie, ob der nicht schon im nächsten Augenblick eine Waffe zücken werde. Auch wenn man zum Mitfahren in ein fremdes Auto steige, müsse man stets damit rechnen, vom Fahrer mit einem Messer attackiert zu werden. Das Schrecklichste sei jene Nacht gewesen, in der Amin bei einer Tante, die in einem kleinen Bergtal lebt, auf Besuch war und dort übernachtete. Das Raketenfeuer von den beiden gegenüberliegenden Seiten des Tales hätte den Himmel taghell erleuchtet, dazu ein ohrenbetäubender Höllenlärm, die Kinder der Tante, zitternd vor Angst, hätten während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Als er die Tante gefragt hätte, weshalb sie immer noch dort wohne, hätte sie ihm erklärt, dass sie gar keine andere Wahl hätte, weil ihr winziges Guthaben niemals ausreichen würde, um eine andere Wohnung oder ein anderes Haus zu kaufen. In jenem Bergtal war es auch, wo Amin im Garten eines Nachbarhauses ein etwa fünfjähriges Mädchen erblickte, das auf ihn einen besonders erbärmlichen Eindruck machte. Als er es fragte, welches sein grösster Wunsch sei, gab das Mädchen zur Antwort: Wenigstens einmal pro Tag Essen zu bekommen…

Als die Angriffe der Taliban immer heftiger wurden, hätten Amin und sein Vater, der Soldat bei den Regierungstruppen war, beschlossen, das Land zu verlassen. Als sie mit dem Auto in Richtung der iranischen Grenze fuhren, seien plötzlich von allen Seiten Talibankämpfer aufgetaucht, der Vater hätte das Auto dermassen beschleunigen müssen, dass es schliesslich mit voller Wucht in eine Felswand geprallt sei, Amin mit gebrochenem Unterarm und seinem glücklicherweise unverletzt gebliebenen Vater gelang es nur um Haaresbreite, den Angreifern zu entkommen und schliesslich, grösstenteils zu Fuss, in den Iran zu gelangen, wo sie Arbeit in einer Textilwerkstatt gefunden hätten, der Vater aber nach all den Strapazen so geschwächt gewesen sei, dass er schon nach kurzer Zeit im Alter von 55 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben sei. Doch nicht nur seinen Vater und seine Schwiegereltern hat Amin verloren, sondern auch noch viele weitere Verwandte, Nachbarn, Schulkollegen und mehrere seiner allerbesten Freunde.

Zu diesem Zeitpunkt war Ela mit Baran und Amins Mutter, seiner Schwester und seinen beiden Brüdern noch in Kabul verblieben. Aziz kam erst zur Welt, als Amin seine Familie schon längst hatte verlassen müssen. Später flohen die anderen Familienmitglieder ebenfalls in den Iran, Ela und die beiden Buben erhielten nach längerer Zeit die sehnlichst erwarteten Reisedokumente und durften in die Schweiz einreisen, wo Amin vor drei Wochen auf dem Zürcher Flughafen seinen inzwischen eineinhalbjährigen zweiten Sohn zum ersten Mal sah. Alles, was Ela und die beiden Buben besassen, hatte in einem einzigen Koffer Platz. Amins Mutter, seine Schwester und seine beiden Brüder leben weiterhin im Iran, höchstwahrscheinlich wird Amin sie zeitlebens nie wieder sehen.

Aber Amin kennt auch all die Geschichten der sogenannten “Illegalen”, von denen einer seiner besten Freunde buchstäblich den ganzen Weg von Afghanistan bis in die Schweiz zu Fuss zurücklegte, zwei Mal im Gefängnis landete, doch meist nach kurzer Zeit wieder entlassen wurde. Er kennt auch die Geschichte jener schwangeren Frau, die sich mit letzter Kraft im Schnee und in der Kälte über das dreitausend Meter hohe Elbrusgebirge quälte und im kärglichen Schutz einer kleinen Felshöhle ihr Kind zur Welt brachte. Er kennt auch die Geschichte jener Familie, deren Vater unterwegs gestorben war und den sie einfach so schutzlos liegen lassen mussten, um, vom Hunger getrieben, nicht zu viel Zeit zu verlieren. Er hat auch Kenntnis von Vorfällen an der bulgarisch-türkischen Grenze, Frauen, die von bulgarischen Polizisten vergewaltigt wurden und deren blutige Kleider später im Wald gefunden wurden. Man hat ihm auch davon erzählt, dass auf Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze Bluthunde gehetzt werden, Männer und Frauen verprügelt, ihnen ihr Geld abgenommen und ihre Kleider vom Leibe gerissen werden. Und er weiss auch, dass von den 18’000 Flüchtlingen, welche zwischen Januar und Mai 2024 die Fluchtroute über Westafrika zu den Kanarischen Inseln gewählt hatten, 4808 unterwegs auf dem Weg über den Atlantik ihr Leben verloren, unter ihnen viele Afghaninnen und Afghanen.

Unweigerlich kommen mir die im Vorfeld der schweizerischen Parlamentswahlen letzten Herbst bis zum Überdruss wiederholten Worte des damaligen SVP-Präsidenten Marco Chiesa in den Sinn, es kämen “zu viele Ausländer” in die Schweiz und vor allem die “Falschen”. Doch welches sind die “Richtigen” und welches sind die “Falschen”? Und wer entscheidet das? Sind die Multimillionäre aus Kuweit, die an bester Lage am Genfersee ihre Luxusvillen bauen lassen, die “Richtigen”? Und wäre die Frau aus Afghanistan, die im Schnee und in der Kälte des iranischen Elbrusgebirges ihr Kind zur Welt brachte, eine der “Falschen”? Wie viel Herzlosigkeit bräuchte es, wenn man einen Abend lang solche Geschichten zu hören bekommen hätte und dann dennoch immer wieder so viel blinden Hass verbreiten würde? Und wenn Chiesa sagte, es kämen “zu viele”: Ich habe mal nachgerechnet, auf 100 Menschen in der Schweiz kommt ein einziger Flüchtling! Sind wir nicht genug stark und reich, um dies zu verkraften, und vielleicht sogar noch einiges mehr? Muss es uns nicht zu denken geben, wenn wir das beispielsweise mit einem wirtschaftlich ungleich viel schwächeren Land wie dem Libanon vergleichen, wo auf 100 Einheimische nicht nur einer, auch nicht nur zwei, nicht einmal zwanzig, sondern sage und schreibe 100 Flüchtlinge kommen?

Amin zeigt mir auf seinem Smartphone ein Schwarzweiss-Foto. Kabul 1954. Kaum zu glauben: Durch die afghanische Hauptstadt rollen Trolleybusse! Afghanistan war zu jener Zeit ein relativ wohlhabendes Land mit moderner Infrastruktur, einem Zweikammerparlament im Rahmen eines konstitutionellen Königtums, mit Meinungs- und Pressefreiheit sowie Frauenwahlrecht, und dies bereits 40 Jahre, bevor es in der Schweiz eingeführt wurde. Heute, so Amin, ist alles kaputt. Seit 1978, im permanenten Strudel wechselnder Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Warlords und den sich von aussen einmischenden Grossmächten Sowjetunion und USA, ist Krieg der ganz “normale” Alltag in Afghanistan. Nach rund 300’000 Kriegsopfern, Millionen Geflüchteter und der weitgehenden Zerstörung von Wirtschaft, Infrastruktur und zivilen Einrichtungen und Institutionen zählt Afghanistan heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Millionen von Afghaninnen und Afghanen, sagt Amin, sind im Krieg geboren, sind im Krieg aufgewachsen, haben im Krieg geheiratet, haben im Krieg gearbeitet und sind im Krieg gestorben. Nie haben sie etwas anderes gekannt als Krieg.

„Wer hat, dem wird gegeben“, „Es regnet immer dorthin, wo es schon nass ist“, „Der Teufel scheisst immer auf den grössten Haufen“ – diese bekannten Redewendungen, in Anlehnung an ein Bibelzitat auch als “Matthäus-Effekt” bekannt, sind wohl für wenige Länder so zutreffend wie für Afghanistan. Das kriegsgeplagte, von himmelschreiender Armut betroffene Land wurde, wie die “Wochenzeitung” vom 23. Mai 2024 berichtete, anfangs Mai Opfer sintflutartiger Überschwemmungen. “Der Fluss war voll mit allem, was man sich vorstellen kann”, erzählt ein im betroffenen Gebiet im Norden Afghanistans lebender Arzt, “Lehm, Holz, Metall, Stein, Menschen und Tiere – ein Anblick des Grauens.” Den offiziellen Zahlen der Taliban zufolge wurden 420 Menschen getötet, die Dunkelziffer dürfte freilich viel höher liegen. Viele Menschen gelten weiterhin als vermisst, die Rettungstrupps müssen sich durch zwei Meter dicke Schlammschichten kämpfen. Ganze Dörfer wurden mitgerissen. Auch ist die Rede von 10’000 ertrunkenen Rindern und Schafen, 6000 zerstörten Häusern und vielen unbrauchbar gewordenen Ackerfeldern. “Die Menschen”, so der Arzt, “werden sich kaum von dieser Katastrophe erholen können, doch schon steht die nächste an, denn auf die Flut wird der Hunger folgen und dieser wird wahrscheinlich abermals unzählige Afghaninnen und Afghanen zur Flucht zwingen.” Man stelle sich einmal ein derartiges Ereignis mitten in Europa vor – alle Zeitungen, Radio und Fernsehen würden tage-, wenn nicht wochenlang über nichts anderes mehr berichten. Dass in unseren Medien kaum etwas von dieser verheerenden Flutkatastrophe in Afghanistan zu hören oder zu sehen war – auch das ist eine schreiende Form von Rassismus und Menschenverachtung.

Laut “Tagesanzeiger” vom 20. Juni 2024 ist Afghanistan “ein Land im Dauernotstand”. Nebst den Repressalien der Taliban und den wirtschaftlichen Problemen wird das Land auch immer wieder von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht, nicht zuletzt als Folge des Klimawandels – jetzt gerade ist es in der Gegend, wo Amin aufwuchs, 51 Grad heiss! Zu alledem hat sich die humanitäre Krise durch die erzwungene Rückkehr von rund 650’000 Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan weiter zugespitzt. Über drei Millionen Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Allein in den vergangenen drei Jahren flohen 1,6 Millionen aus Afghanistan. Die Zahl der weltweit gemeldeten afghanischen Flüchtlinge liegt bei 6,4 Millionen. Amin meint, tatsächlich sei die Zahl um ein Vielfaches höher, weil es sich bei den meisten um “Illegale” handle, und die kämen in den Statistiken gar nicht vor. Von den 43 Millionen Menschen, die noch in Afghanistan leben, bräuchten über 23 Millionen humanitäre Hilfe, 6 Millionen Menschen leben in totaler Verzweiflung. Doch die den Hilfsorganisationen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel reichen bei weitem nicht aus. Das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR hat für das laufende Jahr einen Finanzbedarf von rund 480 Millionen Dollar, doch erst 30 Prozent davon sind gesichert. Der Gesamtbedarf aller Hilfsorganisationen für Afghanistan beläuft sich zurzeit auf 3 Milliarden, auch das ist nur zu 20 Prozent gedeckt. Die fehlenden 2,4 Milliarden wären ein winziger Bruchteil jener rund 640 Milliarden, welche die USA im Verlaufe des 20jährigen Afghanistankriegs für ihre Armee, für Waffen und andere Rüstungsgüter verpulvert hat. Offensichtlich war dafür, ganze Landstriche in Wüsten zu verwandeln, ganze Wohnquartiere dem Boden gleichzumachen, in der gesamten Bevölkerung pausenlos Angst und Schrecken zu verbreiten und friedliche Hochzeitsfeiern in die Luft zu sprengen, so viel Geld nötig, dass jetzt, um wenigstens einen kleinen Teil des angerichteten Schadens wieder gutzumachen, nichts mehr übrig geblieben ist bzw. für andere, neue Kriege gebraucht wird. Zweifellos verfolgten die USA schon im Afghanistankrieg wie auch in allen anderen der über 40 seit 1945 angezettelten Militärschläge, Regierungsputschs und Kriege die gleiche Strategie, die sie aktuell auch jetzt wieder im Ukrainekrieg verfolgen und die von der US-Vizepräsidentin Kamala Harris anlässlich der Bürgenstock-“Friedenskonferenz” so treffend auf den Punkt gebracht wurde, als sie sagte: „Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“

Und auch die Schweiz. Anfang Juni entschied der Ständerat, das Militärbudget in den nächsten vier Jahren um 4 Milliarden zu erhöhen und die Hälfte davon bei der Entwicklungshilfe zu sparen. Bei der humanitären Hilfe der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit würden 470 Millionen Franken gestrichen, Hier geht es um Gelder zur Linderung der Not der Menschen in Krisengebieten oder nach Naturkatastrophen. Betroffen werden unter anderem Afghanistan, Syrien, der Jemen und der Sudan sein. Zudem steht die Unterstützung der Flüchtlingsorganisation UNHCR zur Disposition. Und dem Beitrag des internationalen Komitees vom Roten Kreuz droht eine Kürzung von 20 Prozent. Bei der Entwicklungszusammenarbeit der Deza würde am meisten gespart: 1,2 Milliarden Franken. Dies hätte den Rückzug aus sechs bis acht Schwerpunktländern zur Folge, unter anderem Albanien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Tunesien, Ägypten, Myanmar und Mali. Zudem sind die Beiträge an die fünf grössten Schweizer Nichtregierungsorganisationen in der Höhe von 90 Millionen in Gefahr. Weitere 450 Millionen könnten bei der Unterstützung des Kinderhilfswerks Unicef, des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria sowie des Afrikanischen Entwicklungsfonds gespart werden. Die Abteilung für Frieden und Menschenrechte des EDA müsste Einsparungen von weiteren 330 Millionen beisteuern, hier käme es zu einem Rückzug aus mehreren Schwerpunktländern sowie Kürzungen in den Bereichen Klima, Migration und Menschenrechten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass hier gerade systematisch ein Massenmord geplant wird. Doch Mitte-Ständerat Beat Rieder kann allen Ernstes sagen, es sei “gut, wenn die Schweiz die Demokratie fördern will”, es “bringt aber nichts, Geld in Länder wie Afghanistan zu investieren.” Und FDP-Ständerat Benjamin Mühlemann, der die Sparanträge eingebracht hat, kann sogar in aller Öffentlichkeit die schier unfassbare Aussage machen, dass Entwicklungshilfe zwar “zweifellos wichtig”, die “Wehrhaftigkeit der Schweiz in der gegenwärtigen Situation aber noch viel wichtiger” sei – ohne dass ein Aufschrei der Empörung durch unser Land geht…

Und dies in einer Welt, in der sich im Jahr 2023 jeder 69. Mensch auf der Flucht befand, total fast 120 Millionen, mehr als je zuvor. “Als wäre das nicht schon tragisch genug”, schreibt Chefredaktorin Melanie Steiger in der “Liechtensteiner Woche” vom 23. Juni, “kommt ein weiterer Rekord hinzu: Noch nie waren so viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht wie heute – mehr als 50 Millionen.” Die grössten Fluchtbewegungen kommen aus Afghanistan, Syrien, der Ukraine, Venezuela, Honduras, Myanmar, der Demokratischen Republik Kongo und dem Sudan. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser Flüchtlinge würden nach Europa kommen, zeigen Daten des Kinderhilfswerks Unicef, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge innerhalb des Globalen Südens in anderen Ländern Zuflucht suchen, drei Viertel sämtlicher weltweit registrierter Flüchtlinge sogar in sichereren Regionen ihres eigenen Landes. “Kaum vorstellbar”, so Melanie Steiger, “was die Menschen auf der Flucht auf sich nehmen und welchen Gefahren sie sich aussetzen, schliesslich durchqueren sie andere Konfliktgebiete, die Wüste, das Meer. Und dann stecken sie in Flüchtlingslagern fest und müssen dort erneut unter widrigsten Umständen leben.”

In der Nacht, als mir Amin erklärte, weshalb er ein tausendprozentiger Pazifist geworden sei, wäre in mir auch noch der letzte Rest an Rassismus oder westlicher Überheblichkeit zerplatzt, falls es ihn überhaupt noch gegeben hätte. Stärker denn je zuvor wurde mir bewusst, dass das Gerede von den “kulturellen Unterschieden” und dass der “demokratische” Westen den sogenannten “unterentwickelten” Völkern zum Vorbild dienen müsste und dass insbesondere “bildungsferne” Menschen mit den zivilisatorischen Errungenschaften unserer “hochentwickelten” europäischen Gesellschaften vertraut gemacht werden müssten, dass dies alles bloss Lügen sind, mit denen man die Menschen verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen auseinanderzuspalten versucht, während der einzig wesentliche Unterschied tatsächlich nicht darin besteht, wo auf diesem Planeten wir geboren wurden, sondern einzig und allein nur darin, ob wir den Krieg wollen oder den Frieden, ob wir andere Menschen hassen oder ob wir sie lieben, ob wir das, was wir besitzen, dazu benützen, immer noch mehr und mehr davon zusammenzuraffen, oder dazu, es möglichst gerecht mit vielen anderen zu teilen, ob wir Türen dazu benützen, sie zu schliessen, oder dazu, sie für andere zu öffnen. Dass Amin und Ela trotz allem, was sie an Schrecklichem erleben mussten, dennoch so liebenswürdige, sanfte, friedfertige Menschen geblieben sind, und ihre beiden Kinder genau so liebevoll und sorgfältig die Bauklötze aufeinanderschichten wie meine in der Schweiz geborenen Enkelkinder, müsste uns allen doch endgültig die Augen dafür öffnen, wie stark das Gute in jedem Menschen über alle Grenzen hinweg sein muss und dass bei Weitem nicht alle, sondern höchstens ein winziger Teil all jener, denen auf irgendwelche Weise Gewalt angetan wurde, selber wieder zu Menschen werden, die anderen Menschen Gewalt antun. Was für eine Hoffnung trotz allem…

Freilich kann die Lösung des weltweiten Migrationsproblems nicht darin bestehen, alle Grenzen zu öffnen und sämtliche aus den armen in die reichen Länder Drängenden hier aufzunehmen. Doch werden auch die dicksten Mauern und die tiefsten Gräben die Millionen Verzweifelter nicht daran hindern, für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu erkämpfen, genau so, wie auch unsere europäischen Vorfahren in Zeiten von Armut oder Verfolgung ihr Glück in fernen Ländern suchten, wo sie sich eine glücklichere Zukunft erhofften. Flüchtlinge wird es erst dann nicht mehr geben, wenn alle Güter weltweit auf alle Menschen und alle Länder gerecht verteilt sind. Solange dies aber nicht der Fall ist, können wir Reichen, die über Jahrhunderte von der Ausplünderung und Verelendung des Südens profitiert haben, uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Es gilt, alles daran zu setzen, um eine neue, gerechte zukünftige Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, gleichzeitig aber auch, unsere Türen so weit als irgend möglich zu öffnen und uns mit so viel Aufwand und Verzicht auf eigene Privilegien wie nur irgend möglich um all jene Menschen zu kümmern, die im weltweiten Kampf ums Überleben ihr Dasein auf der Schattenseite fristen.

Nach allem, was Amin erlebt habe, sagt er, sei er zu tausend Prozent Pazifist geworden, jeder Dollar, der für Waffen ausgegeben werde, sei einer zu viel. Er muss es wissen. Wenn wir herausfinden wollen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte, müssen wir nicht Spitzenpolitiker, Politikwissenschaftler, Militär- oder gar Rüstungsexperten fragen, sondern Menschen wie Amin, Ela, Baran und den kleinen Aziz. Heute Nachmittag hat er mir lange zugeschaut, als ich Schachtelhalme aus dem Kiesboden zupfte. Bis er selber einen aus der Erde zog und in den Kübel mit den Gartenabfällen warf. Wir haben uns verstanden, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Baran und Aziz nennen mich übrigens in ihrer Muttersprache, dem Persischen, “Opa”. So habe ich, ohne es beabsichtigt zu haben, sozusagen über Nacht zwei neue Enkelkinder bekommen…

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