Alle schreien nach Bildung – was aber wäre, wenn es eines Tages tatsächlich nur noch Akademikerinnen und Akademiker gäbe?

 

Weltweit wird Bildung als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Armut propagiert. Auch in den “entwickelten” Ländern des Nordens ist der Leitsatz “Je höhere Bildung, umso besseres Leben” weitgehend unbestritten. Doch zu Ende gedacht, würde dies bedeuten, dass eines Tages weltweit jeder Mensch über einen “höheren” oder gar akademischen Bildungsgrad verfügen würde. Ein Zustand, den man sich wohl nicht ernsthaft herbeiwünschen kann. Denn wer, wenn es dereinst nur noch Akademiker und Akademikerinnen gäbe, würde dann noch unsere Häuser bauen? Wer würde unsere Nahrungsmittel anbauen und ernten? Wer würde unser Brot backen? Wer würde all die unzähligen Gegenstände des täglichen Gebrauchs herstellen und wer würde sie von Stadt zu Stadt über unsere Strassen transportieren? Wer würde unsere Kleider nähen? Wer würde unsere Alten und Kranken pflegen? Wer würde unsere Kanäle und Wasserschächte reinigen? Wer würde im Winter den Schnee beiseite räumen? Wer würde die Spitäler, die Hotels, die Bürogebäude, die Kaufhäuser und die Fabrikhallen putzen? Wer würde unsere Haare schneiden? Wer würde die Gestelle in den Supermärkten auffüllen? Wer würde unsere Autos herstellen und sie, wenn sie kaputtgegangen sind, reparieren? Wer würde in den Hotels und den Restaurants für uns kochen und uns bedienen? Verfügten alle Menschen über eine so genannte “höhere” Bildung, würden unsere gesamte Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Die Beseitigung bestehender Benachteiligungen und Ungleichheiten infolge angeblich “fehlender” oder “mangelhafter” Bildung kann niemals darin liegen, dass immer mehr Menschen eine “höhere” Bildung anstreben. Sie muss vielmehr darin liegen, dass allen Menschen, egal welche berufliche Tätigkeit sie ausüben, die gleiche gesellschaftliche Wertschätzung und damit in letzter Konsequenz auch die gleiche Entlohnung zustehen müssen. “Bildung” wäre dann nicht mehr, wie dies heute der Fall ist, bloss ein Mittel zum Zweck, ein Sprungbrett zu einer angenehmeren und besser bezahlten Arbeit. Bildung wäre nichts anderes als die permanente Vervollkommnung der Fähigkeiten, die sich jemand in seiner persönlichen Tätigkeit im Verlaufe seines Lebens nach und nach erwirbt. Eine so “gebildete” Krankenpflegerin und ein so “gebildeter” Maurer verfügen über eine nicht weniger wertvolle “Bildung” als jene, über die eine Ärztin oder ein Rechtsanwalt verfügt. Bildung wäre dann so gesehen nicht mehr das Privileg Einzelner gegenüber anderen, sondern das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen auf die Anerkennung und Vervollkommnung ihrer individuellen Begabungen und damit auf ihren einzigartigen, unersetzlichen Beitrag zum Gelingen des Ganzen.