“Alle Länder der Welt werden sich zwischen der Demokratie und der Autokratie entscheiden müssen” – wenn es so einfach wäre…

 

“Es gibt das autokratische Lager, angeführt von China”, sagt Anders Fogh Rasmussen, von 2009 bis 2014 Generalsekretär der NATO, im Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 26. Juni 2022, “und es gibt das demokratische Lager unter Führung der USA. Alle Länder der Welt werden sich entscheiden müssen, ob sie sich auf die Autokratie einlassen oder die Demokratie wählen.” Ja, wenn es so einfach wäre. Demokratie oder Autokratie. Gut oder Böse. Weiss oder Schwarz. Und nichts dazwischen. Doch wenn wir einen kurzen Blick auf das werfen, was wir so stolz und selbstherrlich als “Demokratie” bezeichnen, werden wir sogleich unschwer feststellen, dass diese “Demokratie” letztlich nichts anderes ist als ein schönes Trugbild, das einer kritischen Betrachtung in keinster Weise standhält. Denn wie alles im Kapitalismus, ist auch die Demokratie letztlich nichts anderes als ein Privileg der Reichen und Mächtigen, ein System, welches es denen, die es sich leisten können, das Recht verleiht, an “demokratischen” Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, während es unzählige andere in Not und Elend stürzt. Kapitalismus und Demokratie ergänzen sich nicht gegenseitig, nein, sie widersprechen sich und schliessen sich gegenseitig aus. “Demokratie” im Kapitalismus ist nichts anderes als eine Scheindemokratie, die angebliche Vielfalt unterschiedlicher politischer Parteien, die doch letztlich nichts anderes sind als Fraktionen einer allesumfassenden kapitalistischen Einheitspartei. Im Namen der kapitalistischen “Demokratie” haben die USA seit 1945 nicht weniger als 44 Angriffskriege und verdeckte Militäroperationen geführt, rund 30 Millionen Menschen getötet und rund 300 Millionen Verletzte zurückgelassen. Im Namen der “Demokratie” haben die “freien” Länder des Westens seit 500 Jahren systematisch die Länder des Südens ausgeplündert und sich auf Kosten der Arbeit und des Reichtums anderer masslos bereichert. Im Namen der “Demokratie” schwelgt eine Minderheit Reicher und Superreicher in nie dagewesenem Luxus, während jeden Tag 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Im Namen der “Demokratie” haben die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ein Vermögen von über 800 Milliarden Franken zusammengescheffelt, während eine knappe Million Schweizerinnen und Schweizer am Ende des Monats kaum mehr das nötige Geld für das tägliche Essen zusammenbringen. Im Namen der “Demokratie” wird blindlings an der fixen Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums festgehalten, welches die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen immer stärker zu gefährden droht. Die von Rasmussen dargestellte Polarisierung der Welt in Demokratie und Autokratie ist nicht nur durch und durch falsch, sondern auch durch und durch gefährlich. Denn sie entbindet uns, den “freien” und “demokratischen” Westen, davon, unser eigenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem kritisch zu hinterfragen. Bevor wir anderen ihre Missetaten vorhalten und unsere eigene vermeintliche Überlegenheit in den Vordergrund stellen, müssten wir zuerst selber in unseren eigenen Spiegel schauen. Wenn autokratische Systeme des “Ostens” keine Zukunft haben, dann hat es der Kapitalismus erst recht nicht. Bevor wir keine soziale Gerechtigkeit schaffen, bevor wir den Reichtum nicht gerecht verteilen, bevor wir nicht alle Formen von Ausbeutung von Mensch und Natur beseitigen, bevor wir nicht dem Wachstumswahn eine endgültige Absage erteilen und den Klimawandel stoppen, haben wir auch nicht den geringsten Anlass, andere zu belehren und unsere Überlegenheit zu propagieren. Was wir brauchen, ist nicht eine in Gut und Böse, Weiss und Schwarz geteilte Welt, sondern eine Welt, in der für alle Menschen über alle Grenzen hinweg ein gutes Leben in Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung Wirklichkeit geworden ist.