Alina Lipp und die Göttinger Staatsanwaltschaft: Völlig überrissene und masslose Kriminalisierung einer unliebsamen Internetaktivistin

 

Zuerst dachte ich, ich hätte nicht richtig gelesen. Aber dann sah ich, dass es tatsächlich wahr ist. Gemäss Internetportal “Watson” ermitteln deutsche Behörden gegen Putins deutsche “Infokriegerin” Alina Lipp wegen ihrer Postings zum Ukrainekrieg. Die Staatsanwalt Göttingen, die den “Fall” inzwischen übernommen hat, wirft Alina Lipp vor, sich mit Russlands Krieg gegen die Ukraine zu solidarisieren. Es gehe um eine Vielzahl von Beiträgen, die sie regelmässig in sozialen Netzwerken absetze. So etwa hätte sie am 24. Februar 2022 geschrieben: “Die Denazifikation hat begonnen.” Und am 12. März hätte sie in einem Video davon gesprochen, dass die russischen Truppen Regionen, die von “Genozid” betroffen gewesen seien, befreit hätten. Die Göttinger Staatsanwaltschaft hält Lipps Aussagen offenbar für geeignet, das Klima in Deutschland aufzuheizen und “aufgrund verzerrender, zum Teil wahrheitswidriger Darstellungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufzulösen”. Da Lipp auf dem Messengerdienst Telegram bereits 150’000 Abonnentinnen und Abonnenten habe, sei ihre Wirkung nicht zu unterschätzen. Wegen ihrer Unterstützung eines “verbotenen Angriffskriegs” müsste Lipp, so die Göttinger Staatsanwaltschaft, gemäss Artikel 13 des Völkerstrafgesetzbuchs, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. Bereits seien Spendengelder beschlagnahmt worden, die Lipp gesammelt hätte und mit denen “rechtswidrige Taten” hätten finanziert werden sollen. Mir fehlen die Worte. Jede Seite in diesem Krieg weiss doch, dass die Gegenseite nicht davor zurückschreckt, alle ihr zur Verfügung stehenden Propagandamittel in die Schlacht zu werfen. Es wäre völlig naiv, anzunehmen, die eine Seite verbreite nur die pure Wahrheit und die andere bloss Lügen. Die Postings von Alina Lipp sind ein paar wenige von Abertausenden Schlagwörtern, Behauptungen, Unterstellungen, Inszenierungen und vermeintlichen “Wahrheiten”, welche sich die Kriegsparteien tagtäglich gegenseitig um die Ohren schlagen. Und die Beiträge sind ja inmitten dieses Informationskriegs nicht einmal nur falsch. Zum Beispiel ist der Begriff der “Denazifikation” nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Stepan Bandera, der unter anderem auch von der “NZZ” als “Terrorist” bezeichnet wird und der mitschuldig war an der Ermordung Zehntausender Polen und Juden im Zweiten Weltkrieg, geniesst auch heute noch in weiten Kreisen der Ukraine grosses Ansehen. Auch die berüchtigte Asowbrigade, welche zwischen 2014 und 2021 in der Ostukraine entsetzliche Gräueltaten beging, hat einen nationalsozialistischen Hintergrund. “Rechtsradikale Strömungen und rassistische Übergriffe gibt es auch in der Ukraine”, so die “Gesellschaft für bedrohte Völker”, “vor allem Ressentiments gegen Roma sind in der Mitte der Gesellschaft zu finden und der ukrainische Staat tut wenig, um dieser Diskriminierung entgegenzuwirken. Zudem duldet die Regierung ultranationalistische und rechtsextreme ukrainische Kämpfer in den östlichen Konfliktgebieten des Landes, die gegen russische Separatisten kämpfen.” In diesem Zusammenhang von einem “Genozid” zu sprechen, wie dies Alina Lipp tut, “mag übertrieben sein – doch auch dieser Aussage ist ein Kern Wahrheit nicht abzusprechen. Was Alina Lipp tut, ist nicht propagandistischer als das, was die westlichen Medien ebenso tun. Während Lipp Ereignisse “verzerrend”, “übertrieben” und “einseitig” darstellt, hüllen sich die westlichen Medien darüber in Schweigen und lassen nur zu, was in ihre Sicht der Dinge hineinpasst – beides ist ein Zerrbild und wird der objektiven “Wahrheit” bei Weitem nicht gerecht. Dass allerdings gegen eine junge Internetaktivistin mit so grobem Geschütz aufgefahren wird, muss schon sehr zu denken geben. Im Gegensatz zu den Kriegstreibern auf beiden Seiten der Front hat sie nämlich kein einziges Menschenleben auf dem Gewissen. Zudem muss man ihr zugute halten, dass sie stets aus der Mitte des Kriegsgeschehens berichtet und in engem Kontakt mit der betroffenen Bevölkerung steht. Die völlig überrissene Dämonisierung der Internetaktivistin, die sich, mag ja sein, in ihre “Mission” gar ein wenig stark hineingebissen hat, zeigt auf erschreckende Weise auf, wie wenig Widerspruch unsere westlich-demokratische Staatengemeinschaft offensichtlich noch zu dulden bereit ist. Unwillkürlich kommen mir bei dieser Gelegenheit die Talkshows am deutschen Fernsehen in den Sinn, vor allem jene von Markus Lanz, der jedes Mal, wenn eine kritische Person in der Runde sitzt, gleich einen Wutanfall bekommt. Ins gleiche Kapitel geht die Abschaltung des russischen Nachrichtensenders “Russia Today” in sämtlichen EU-Ländern, um bloss nicht die Bevölkerung auf “dumme” Gedanken zu bringen. Ob der Kampf gegen das “Andere”, das “Böse” nicht letztlich bloss die Angst davor ist, es könnten andere, unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen? Haben die westlichen Regierungen so wenig Vertrauen in ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger, dass sie diesen nicht mehr zutrauen, sich in den Widersprüchen von Propaganda und Gegenpropaganda ihre eigene Meinung zu bilden? Wie brüchig muss das Selbstverständnis des herrschenden Machtsystems sein, wenn eine unliebsame Internetaktivistin mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen muss, während ein US-amerikanischer Präsident, nämlich George W. Bush, aufgrund von Lügen und übelsten Machenschaften einen Krieg mit Hunderttausenden von Todesopfern anzetteln konnte und trotzdem immer noch frei herumläuft? “Alle, die sich ausserhalb des markierten Meinungskorridors bewegen”, schreibt die “Junge Welt”, “werden nun also nicht mehr nur verunglimpft und ausgegrenzt – sie werden kriminalisiert.” Ob wohl auch Papst Franziskus, der unlängst behauptet hat, die Hauptschuld am Ukrainekrieg trage nicht Russland, sondern die NATO, ebenfalls schon bald im Gefängnis sitzen wird?