Akademische Karrieren: Wenn die Rädchen schon zurechtgeschliffen werden, bevor sie sich noch richtig zu drehen begonnen haben…

 

“Wer an einer Hochschule reüssieren will”, schreibt der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann in der “NZZ am Sonntag” vom 29. August 2021, “tut gut daran, die Stationen der Karriere genau zu planen. In den Wirtschaftswissenschaften ist es üblich, spätestens nach dem regulären Studium an eine renommierte Universität zu wechseln, um eine Dissertation zu schreiben. Danach erfolgt ein weiterer Wechsel zu ersten Anstellung an einer anderen Universität, sofern die Publikationsernte üppig genau ausfiel. Wenige Jahre später kommt die unbefristete Professur. Das klingt dynamischer, als es ist. Die Ausbildungszeit besteht im Wesentlichen darin, dass ein Büro mit dem andern vertauscht wird. Ob ich an der Mailänder Bocconi-Universität oder an der Yale University einen Artikel über die Wirkung von Deviseninterventionen schreibe, ändert wenig daran, dass ich hüben wie drüben hauptsächlich vor dem Computer sitze, die gleichen Papers lese und mich mit den Kolleginnen und Kollegen auf Englisch austausche. Nur das Nachtleben unterscheidet sich signifikant: Mailand ist eindeutig spannender als New Haven, Connecticut.” Dies alles erinnert mich an eine mittelalterliche Priesterkaste: Eine Vielzahl ungeschriebener Rituale legt fest, wer dazu gehört und wer nicht. Zwischen denen, die dazu gehören, und dem “gewöhnlichen” Volk klafft ein unüberwindlicher Abgrund. Die Klasse der Elite, der Abgehobenen hat ihr eigenes Denken, ihre eigene Sprache, ihr eigenes Selbstverständnis. So generiert die kapitalistische Ökonomie ihren Nachwuchs und die Rädchen werden aufs Feinste zurechtgeschliffen, bevor sie sich noch richtig zu drehen begonnen haben. “Aussenseiter”, “Querdenker”, “Systemkritiker” haben hier schon von allem Anfang an keinen Platz. Und die Welt wird gnadenlos zweigeteilt: Oben jene, die über ökonomische Zusammenhänge nachdenken, sie analysieren, darüber Dissertationen und Bücher schreiben und für all das meist gar nicht schlecht bezahlt werden. Unten jene, die für viel weniger Geld mit ihrer täglichen Arbeit als Krankenpflegerinnen, Bauarbeiter, Köchinnen, Putzfrauen, Buschauffeure, Hausfrauen und Verkäuferinnen an vorderster Front genau das verkörpern, was schliesslich diese Wirtschaft, über welche die “Expertinnen” und “Experten” nur gescheit reden und nachdenken, in ihrer Gesamtheit ausmacht. Solcherlei Expertentum und Elitedenken ist letztlich höchst undemokratisch und müsste dringendst aufgewirbelt werden, indem zukünftige “Ökonomen” und “Ökonominnen” über Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern an der Basis der Arbeitswelt verfügen und auch Menschen mit “schrägen”, unkonventionellen Biografien Zugang zu den “höchsten” Stufen der Wissenschaft haben müssten. Damit auch andere Denkrichtungen neben dem kapitalistischen Mainstream eine Chance hätten und die Institutionen der akademischen Welt nicht bloss Aufbewahrungs- und Konservierungsorte althergebrachter Traditionen wären, sondern Orte innovativer, kreativer Zukunftsgestaltung. Leider geht, wie Straumann in seinem Artikel ausführt, der aktuelle Trend genau in die entgegengesetzte Richtung: “Nachwuchsleute mit unkonventionellen Biografien haben es nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften, sondern in allen Sozial- und Geisteswissenschaften zunehmend schwer. Ein neues Zeitalter des Konformismus ist angebrochen.”