Afghanistan: Das Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit

 

Augen voller tiefster Traurigkeit, die mich nicht mehr loslassen. Ein Mädchen, das in den Ruinen seines vom Krieg zerstörten Hauses am Boden kauert, ohne Eltern, irgendwo im fernen Afghanistan, eines von Millionen von Kindern, die nicht wissen, ob sie diesen Winter überleben werden, ob sie der Kälte widerstehen können, ob sie genug zu essen bekommen. Während wir den Weihnachtsbaum schmücken, feine Gerichte kochen und unsere Kinder mit wundervollen Geschenken beglücken werden. So weit voneinander entfernt und doch so nahe ist das alles. Doch weshalb ist unser Gedächtnis so kurz? Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York rasten, diese zum Einsturz brachten, dabei fast 3000 Menschen ums Leben kamen und US-Präsident Bush schon bald darauf zu einem vernichtenden Feldzug gegen Afghanistan aufrief, welches als mutmassliches Rückzugsgebiet der Drahtzieher des Terroranschlags galt, da gab es noch zahlreiche kritische Stimmen, welche die Frage aufwarfen, ob der militärische Angriff auf ein Land, in dem weit über 99 Prozent der Bevölkerung mit den Anschlägen vom 11. September auch nicht das Geringste zu tun hatten, gerechtfertigt sei, bloss um einer Handvoll von Terroristen habhaft zu werden. Offensichtlich befinden wir uns in einer sehr schnelllebigen Zeit: 20 Jahre Krieg der USA und ihrer Verbündeten scheinen die kritischen Stimmen von damals in Nichts aufgelöst zu haben: Als der mutmassliche Hauptdrahtzieher der Anschläge vom 11. September, Osama bin Laden, schliesslich am 2. Mai 2011 aufgestöbert werden konnte und getötet wurde, schien sich der von den USA inszenierte Krieg, der über 350’000 Menschen das Leben gekostet hat, “gelohnt” zu haben. Ob das Mädchen mit den traurigen Augen dies alles jemals verstehen wird? Ob sie jemals verstehen wird, dass in ihrer Heimat 20 Jahre lang die grösste Militärmacht der Welt einen Krieg geführt hat, der jährlich 50 Milliarden Dollar verschlang – während jetzt zur Bekämpfung der aktuellen Hungersnot von den westlichen “Geberländern” gerade mal 280 Millionen Dollar, also fast 300 Mal weniger, zur Verfügung gestellt worden sind und auch das gesamte Gesundheitssystem infolge chronischer Unterfinanzierung und fehlender Hilfszahlungen buchstäblich vor dem Zusammenbruch steht? Und ob sie jemals verstehen wird, dass ausgerechnet jene Staaten, die ihre Truppen eben erst Hals über Kopf aus Afghanistan abgezogen haben, das Land nun mit härtesten Wirtschaftssanktionen belegen, obwohl sie doch wissen müssten, dass sie damit vor allem den ärmsten Teil der Bevölkerung treffen, während die Privilegierteren mehr oder weniger ungeschoren davon kommen? Während es in unseren Stuben immer wärmer wird, wird es in Afghanistan jeden Tag ein bisschen kälter und ich frage mich, ob das Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit überhaupt noch lebt. Und wie wenn das alles nicht schon schlimm genug wäre, stolpere ich über eine weitere Nachricht aus Afghanistan. Die Bevölkerung leide, so teilt das Welternährungsprogramm mit, unter einer der schwersten Dürren, die das Land je heimgesucht hat: Infolge von Hitze und Wassermangel seien die landwirtschaftlichen Erträge im Jahre 2021 gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent gesunken. Wenn nicht gehandelt werde, drohe früher oder später der “Totalzusammenbruch der Landwirtschaft”. Und weiter: Angesichts des weltweiten Klimawandels könnten solche Dürren immer mehr zur “afghanischen Normalität” werden. Und damit schliesst sich auf brutalste Weise der Kreis: Ausgerechnet die USA, welche nicht nur über die grösste Militärmaschine der Welt verfügen, sondern auch über die tödlichen Instrumente von Wirtschaftssanktionen und verweigerten Hilfsgeldern, ausgerechnet die USA sind auch an vorderster Front mitverantwortlich für die weltweite Klimaerwärmung, von der wiederum vor allem die ärmsten Länder am allermeisten betroffen sind. Was werden die Geschichtsbücher in 50 Jahren über unsere heutige Zeit wohl schreiben? Und in was für einer Welt wird das afghanische Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit, wenn sie diese dunkle Zeit überstanden haben wird, wohl leben?