Abstimmung über die Pensionskassenreform: Scheingefechte, um von der eigentlichen Grundsatzfrage abzulenken…

“Knapp einen Monat vor der Abstimmung über die Pensionskassenreform”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 28. August 2024, “streiten sich Befürworter und Gegner über die Auswirkungen der Vorlage.” Das Ja-Komitee verkaufe die Reform als Gewinn, insbesondere für Geringverdienende und Frauen. Die Linke widerspreche dieser Behauptung: Aus ihrer Sicht wären bei einem Ja mehr Menschen von Rentenverlusten betroffen, als von den Befürwortern berechnet worden sei. Die Stimmbevölkerung werde mit “realitätsfernen” und “beschönigenden” Zahlen in die Irre geführt, so Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB. Gemäss eigenen Berechnungen führe die Senkung des Umwandlungssatzes bereits für Löhne über 4000 Franken zu sinkenden BVG-Renten. Zudem treffe entgegen anderslautenden Behauptungen die Reform auch die Pensionierten selber, denn bei einer Annahme der Vorlage müssten viele Rentnerinnen und Rentner noch länger auf den Teuerungsausgleich warten. Auch seien die Kosten für die Kompensationsmassnahmen vom Bund zu tief geschätzt worden, in den 11,3 Milliarden Franken seien beispielsweise die administrativen Kosten für die Umsetzung der Reform ausgeklammert worden. Indessen wolle der Bund zu diesen Fragen vorläufig keine Stellung nehmen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) gäbe lediglich zu bedenken, dass es bei der beruflichen Vorsorge “schwierig” oder gar “unmöglich” sei, für die Gesamtheit der Versicherten oder der Versicherungsträger gültige Aussagen zu erhalten, denn das ganze System bestehe aus gegen 1400 Einrichtungen, von denen jede anders sei, eine andere Versicherungsstruktur habe, eine andere Rechtsform, andere Versicherungspläne anbiete, andere angeschlossene Arbeitgeber mit unterschiedlicher Lohnstruktur habe und so weiter.

Doch eigentlich sind das alles Scheingefechte. Sie lenken bloss von der Tatsache ab, dass das schweizerische System der Altersvorsorge von Anfang an eine immense Fehlkonstruktion war und ist. Denken wir uns einmal alles Bestehende weg, dieses ganze komplizierte, intransparente und von so vielen Unwägbarkeiten abhängige Gebilde aus einer ersten, zweiten und dritten Säule mit seinem gewaltigen administrativen Aufwand und all den gegenseitig um möglichst grossen materiellen Nutzen ringenden Playern, dann würden wir am Ende nämlich bei einer ganz simplen Frage angekommen sein: Was sollte das eigentliche Ziel und der eigentliche Sinn einer Altersvorsorge sein?

Dieses Ziel und dieser Sinn müssten doch darin liegen, allen Menschen in diesem Land einen Lebensabend in Würde und materieller Sicherheit zu gewährleisten – so banal dies klingen mag, doch es gibt nichts Wesentliches hinzuzufügen. So einfach es ist, so einfach wäre auch die Lösung: Eine Volkspension, welche diesen Namen tatsächlich verdient. Dann bräuchte es weder eine zweite noch eine dritte Säule, alles Überflüssige an Administration würde wegfallen, es gäbe keinerlei Nutzniesser mehr, die sich auf Kosten anderer bereichern, und buchstäblich jeder Franken, der in diese Volkspension hineinfliessen würde, käme auf der anderen Seite wieder heraus als ein Franken, mit dem sich alle Menschen auch nach ihrer Pensionierung ein möglichst gutes Leben leisten können. Mehr braucht es nicht. Aber auch nicht weniger.

So wie jedes Haus ein Fundament braucht und jeder Baum Wurzeln, ohne die er nicht in die Höhe wachsen könnte, so brauchen auch gesellschaftliche Institutionen, ja letztlich ein ganzes Staatswesen wie auch das gesamte Wirtschaftssystem so etwas wie eine geistige Grundlage, auf der erst alles Einzelne aufbauen kann. Dabei geht es in allererster Linie um das Menschenbild, um die Frage, ob der Mensch von Natur aus “schlecht” oder “gut” ist, “faul” oder “fleissig”, “egoistisch” oder “sozial”. Dominiert in gesellschaftspolitischen Diskussionen nach wie vor eher ein negatives Menschenbild mit allen daraus resultierenden Folgen für die Gesetzgebung, so setzt sich im Gegensatz dazu, auch in der wissenschaftlichen Forschung, immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Mensch von Natur aus ein “gutes”, “mitfühlendes”, “soziales”, nicht nur auf das eigene Wohl bedachtes Wesen ist. Der beste Beweis dafür ist die Art und Weise, wie sich die Kinder in ihren ersten Lebensjahren verhalten und miteinander umgehen. Machtstreben, Konkurrenzkampf, übertriebener Egoismus und Missgunst bilden sich erst nach und nach im Kontakt mit den Normen der kapitalistischen Wertewelt.

Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch willens und bestrebt ist, im Verlaufe seines Lebens das Beste zu geben und seine eigenen, individuellen Begabungen bestmöglich zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu verwirklichen. Doch die äusseren Bedingungen, unter denen dies geschieht, sind höchst unterschiedlich. Je nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprachkenntnissen, Zugang zu Informationen, persönlichen Beziehungen und vielem mehr klettern die einen leicht und rasch auf der beruflichen und materiellen Karriereleiter in die Höhe, während sich den anderen immer wieder nahezu unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellen. Viele haben Glück, viele andere haben Pech. Lebenskrisen, Scheidungen, Burnouts, Unfälle und schwere Krankheiten können selbst die perfektesten Lebenspläne von einem auf den anderen Tag vollständig über den Haufen werfen. Je nach beruflicher Tätigkeit klaffen die Löhne der Gut- und der Schlechtverdienenden bis zum Hundertfachen oder noch weiter auseinander. Frauen leisten häusliche und familiäre Schwerarbeit als grundlegende Basis für das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft, ohne einen Rappen Lohn zu bekommen, Manager kassieren schon mehrere tausend Franken, wenn sie nur an irgendeinem Meeting eine Stunde lang auf einem Stuhl sitzen, ohne auch nur eine minimale produktive Arbeit zu leisten.

Man könnte das auch mit einer Reise übers Meer vergleichen. Schon am Land, beim Start, waren die Spiesse höchst ungleich lang. Und erst recht auf der Fahrt selber: Die einen bekommen schon von Anfang an einen Platz auf einem grossen, stark gebauten Passagierdampfer, andere profitieren in eleganten Segelbooten von günstigem Wind und wieder andere müssen sich in winzigen, zerbrechlichen Booten bis zur Erschöpfung durch haushohe Sturmwellen kämpfen. Eines Tages werden sie alle am anderen Ende des Meers an Land gehen, die einen noch fast so frisch und gesund wie bei der Abreise, andere grau und alt geworden und voller Schmerzen in kaputtgearbeiteten Körpern oder mit einem von viel zu viel Stress verbrauchten Herzen, das nur noch kurze Zeit schlagen wird. Sie alle haben 40 oder 50 Jahre lang, die weitaus längste Zeit ihres Lebens, ihr Bestes gegeben, manche vom Glück beflügelt, andere vom Pech verfolgt. Sie haben gegeben, was sie geben konnten, und sie alle haben Aufgaben bewältigt, ohne welche auch alle anderen Aufgaben nicht hätten bewältigt werden können, denn was wäre der Chirurg ohne die Spitalangestellte, die den Operationssaal bis auf den letzten Millimeter sterilisiert, was wäre der Chef einer Grossbäckerei ohne die Arbeiterinnen und Arbeiter, die schon mitten in der Nacht an den Fliessbändern stehen, was wären die Aktionärinnen und Aktionäre eines Immobilienkonzerns ohne die Bauarbeiter, welche bei Wind und Wetter, bei grösster Kälte und in grösster Hitze in schwindelerregender Höhe all die Häuser errichten, aus denen später wieder das Geld in die Taschen jener fliessen wird, die sowieso schon längst viel zu viel davon haben, und was wäre der gutbezahlte IT-Spezialist ohne seine Frau, die jahrelang den Haushalt besorgte und die Kinder aufzog, ohne dafür Geld zu bekommen, und die jetzt, nachdem er sich von ihr scheiden liess, mit einem kargen Lohn als Verkäuferin irgendwie zurecht kommen muss. Jetzt, wo sie alle das Ziel erreicht haben, wäre doch allerspätestens der Zeitpunkt gekommen, da alle, die von der Arbeit anderer profitiert haben, diesen unendlich dankbar sein müssten. Jetzt wäre doch allerspätestens der Zeitpunkt gekommen, all das, was gemeinsam erarbeitet, erwirtschaftet und an Reichtum aufgeschichtet wurde, in einen grossen gemeinsamen Topf zu werfen und gleichmässig unter alle zu verteilen.

Aber nein. Genau das Gegenteil. Ausgerechnet die, welche schon vor der Abreise benachteiligt waren und auf der Fahrt selber erst recht, werden jetzt noch einmal, zum letzten Mal, zur Seite geschoben und müssen mit einer Altersrente zurecht kommen, die nicht einmal oder höchstens nur ganz knapp zum Allernötigsten reicht. Und ausgerechnet die, welche schon vor der Abreise und erst recht auf der Fahrt selber am meisten Glück hatten, können sich jetzt, dank des aufgehäuften Geldes in der zweiten und dritten Säule, jeglichen Luxus leisten, im Kreuzfahrtschiff rund um die Welt reisen, in jedem beliebigen Luxusrestaurant speisen und in jedem noch so teuren Hotel nächtigen. Dass es schon vor der Abreise und auf der Fahrt keine Gerechtigkeit gab, ist bitter genug. Aber dass auch noch der Lebensabend, die letzte verbliebene Zeit vor dem endgültigen Abschiednehmen, nichts anderes ist als die Fortführung aller bereits erlittenen Ungerechtigkeiten, ist nun wirklich das Alleräusserste an Menschenfeindlichkeit. Denn es müsste nicht sein, es liesse sich vermeiden.

Es wäre so logisch, so gerecht und zugleich so einfach: Eine durch Steuern finanzierte Volkspension, die sich für alle auf den genau gleichen Betrag beläuft, gänzlich unabhängig davon, auf welche Weise sie die Reise übers Meer bewältigt hatten, wie viele oder wie wenige Hindernisse sie überwinden mussten und ob sie ihre Arbeit an einem Computer, an einer Supermarktkasse oder in den städtischen Abwasserschächten erledigt hatten. Wenn etwas noch logischer und folgerichtiger wäre als eine Einheitsrente, dann wäre es höchstens eine in der Weise abgestufte Rente, dass jene, die am härtesten arbeiten mussten und am wenigstens verdienen, nun eigentlich, sozusagen als Belohnung oder Wiedergutmachung, eine höhere Rente bekommen müssten als andere.

Nur schon die dadurch bewirkte immense Reduktion all jener unzähligen Gelder, die heute für die Aufrechterhaltung eines immer komplizierten und aufwendigeren Rentensystems verschwendet werden, wäre schon ein schlagendes Argument dafür, würde man doch gleichzeitig mit der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit immense Kosten einsparen. Zukunftsmusik, ich weiss. Aber hie und da sollte man auch wieder mal den Mut haben, gross zu denken, damit wenigstens wieder ein ganz klein bisschen mehr Menschlichkeit möglich werden kann und man sich nicht bloss in solchen Scheindiskussionen verliert, wie sie nun im Vorfeld zur Abstimmung über eine Pensionskassenreform stattfindet, von der niemand ganz genau sagen kann, wie viel oder wie wenig sie tatsächlich bringen würde.