Die heutige Wirtschaftsordnung: Im 19. Jahrhundert steckengeblieben

Der Meeresspiegel steigt, die Gletscher schmelzen, das Klima wird extremer. Christian Mumenthaler, Chef des Rückversicherers Swiss Re, der jedes Jahr Milliarden bezahlt für Schäden durch Waldbrände, Wirbelstürme, Überschwemmungen und dergleichen: «Der Klimawandel ist ein grosses Problem für die Menschheit». Eine andere Sprache spricht freilich der kürzlich veröffentlichte «BP Statistical Review of World Energy 2019», der jüngste Weltenergiebericht des Ölkonzerns BP. Die Daten zeigen für das vergangene Jahr das stärkste Wachstum des globalen Energiekonsums (+2,9 Prozent) seit 2010. Das ist fast doppelt so stark wie der Durchschnitt der vergangenen sechs Jahre (+ 1,5 Prozent) und bedeutet auch, trotz Zuwächsen bei den erneuerbaren Energien, mehr CO2. Laut BP-Chef Bob Dudley gibt es «wenig Zweifel, dass das gegenwärtige Tempo des Fortschritts nicht im Einklang steht mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens». Was ist vergangenes Jahr punkto Energie passiert? Die Erdölförderung und der Erdölverbrauch haben jeweils historische Höchstmengen erreicht. Allein die USA haben ihre Förderung um ein Sechstel ausgeweitet. Ähnlich sieht es aus bei der Erdgasgewinnung. Neben den USA weiteten hier auch Russland und der Iran die Produktion deutlich aus. Insgesamt nahmen Gasförderung und Gasverbrauch vergangenes Jahr um jeweils über 5 Prozent zu. Das sind die höchsten Zuwachsraten seit über 30 Jahren. Bei der Kohle lagen 2018 sowohl der Verbrauch (+ 1,4 Prozent) als auch die Förderung (+ 4,3 Prozent) nach drei Jahren des Rückgangs zum zweiten Mal in Folge über den Vorjahreswerten. Die Konsequenzen bei den CO2-Emissionen sind die gleichen wie in den Vorjahren. 2018 wurden insgesamt 33’685 Millionen Tonnen CO2 neu in die Atmosphäre ausgestossen. Das sind 645 Millionen Tonnen oder annähernd 2 Prozent mehr als im Vorjahr, es ist der grösste Zuwachs seit sieben Jahren und beinahe die Hälfte mehr als der Durchschnitt der sechs Jahre davor (+ 1,4 Prozent). Das entspricht den CO2-Emissionen, wenn man die Zahl der Autos auf der Erde um ein Drittel erhöhen würde. Der BP-Chefökonom Spencer Dale schreibt: «Es besteht ein wachsendes Missverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Forderungen nach Massnahmen gegen den Klimawandel und dem tatsächlichen Tempo des dabei erzielten Fortschritts.»

(W&O, 29. Juni 2019)

Politiker, Politikerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen in wachsender Zahl zur Überzeugung, dass es mit der Energieverschwendung, dem Rohstoffverschleiss, dem CO2-Ausstoss und anderen Bedrohungen des Ökosystems nicht mehr lange so wie bisher weitergehen kann, ausser man setzt das Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren ganz bewusst aufs Spiel. Doch trotz aller Erkenntnis: Die kapitalistische Profit- und Wachstumsmaschine brummt ungestört weiter, und sogar noch ungehemmter und schneller denn je. Wir scheinen es mit einem goldenen Käfig zu tun zu haben, den wir uns selber gebaut haben und aus dem wir aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden. Selbst der BP-Chefökonom signalisiert diese Doppelbotschaft, diese selbst auferlegten Zwänge, diese Zerrissenheit zwischen Einsicht und Handeln, indem er von einem «wachsenden Missverhältnis» zwischen diesen beiden Polen spricht. Im Klartext: Lassen wir diesen kapitalistischen Motor weiterbrummen – und sein Tempo wird naturgemäss immer weiter zunehmen -, dann ist die Aussicht auf ein Überleben späterer Generationen äusserst gering. Sollen wir warten, bis wir am Abgrund stehen? Oder nicht gescheiter jetzt schon damit beginnen, die bestehende profit-, konkurrenz- und wachstumsorientierte Wirtschaft nach und nach in eine Wirtschaft des Teilens, der Kreisläufe, der Bescheidenheit und des Gemeinwohls umzuformen? Im Bereich der Technik und Forschung befinden wir uns schon bald im 22. Jahrhundert, so rasant folgt eine Neuerung der nächsten. Im Bereich der Wirtschaft dagegen sind wir noch im 19. Jahrhundert steckengeblieben. Diese ungeheure Diskrepanz gilt es wettzumachen, indem alle Phantasie, Kreativität und Erfindungsgabe der Menschen über alle Grenzen hinweg dazu aufgebracht werden müsste, um unsere Wirtschaftsordnung in der Weise umzubauen, dass sie nicht nur die Bedürfnisse der heutigen Menschen erfüllt, sondern zugleich auch die Bedürfnisse der Erde, der Natur, der Tiere und der zukünftigen Generationen…