Einheitslohn: «völlig einleuchtend und völlig überzeugend»

«Siehst du», sagte ich, «das war schon bei den afrikanischen Ureinwohnern so, bevor die Weissen kamen: Tagsüber ging man auf die Jagd. Die einen erlegten mehr Tiere, die anderen weniger, die Dritten gar keine. Aber am Abend, wenn das Feuer brannte, teilte man die ganze Beute gleichmässig auf alle Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes auf, egal, ob sie viel, wenig oder gar nichts gejagt hatten. Das ist doch nichts anderes als ein Einheitslohn. Übertragen auf eine nationale Gemeinschaft wie die Schweiz würde das heissen: Alle geben ihr Bestes, von der Putzfrau über den Schuhverkäufer bis zur Ärztin und zum Rechtsanwalt. Dabei wird ihre Beute sehr unterschiedlich sein, je nach Sparte und Branche, je nach betriebswirtschaftlichem Erfolg, je nach Wertschöpfung. Aber am Ende des Tages könnten doch alle ihre Beute zusammentragen und alles Erbeutete gleichmässig unter alle verteilen. Das wäre der Einheitslohn. Tönt doch logisch, oder nicht?» – «Absolut logisch, einleuchtend und völlig überzeugend», sagte S., die bisher zur zugehört hatte. «Aber es wird sich niemals realisieren lassen, davon bin ich zutiefst überzeugt.»

Wie war das mit dem Frauenstimmrecht? Mit der Abschaffung der Sklaverei? Mit dem Verbot der Kinderarbeit? Gab es da nicht auch genau die gleichen Stimmen, die das alles total überzeugend und einleuchtend fanden, dennoch nicht an eine Realisierung glaubten? Und was ist mit den Atomwaffen? Und überhaupt mit Waffen? Seltsam, technisch und wissenschaftlich befindet sich die Menschheit auf einem Niveau, von dem frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten. Gesellschaftliche Visionen dagegen, die auch nur ein klein wenig über das Althergebrachte und Gewohnte hinausgehen, lösen bloss Skepsis und Kopfschütteln aus. Weshalb eigentlich? Wo klemmt es?

Unten gibt es eine Kommentarspalte. Mich würde extrem wundernehmen, was die Leser und Leserinnen meines Blogs zur Idee eines Einheitslohns meinen.