«Du wirst fallengelassen wie eine heisse Kartoffel»

«Du wirst fallengelassen wie eine heisse Kartoffel», erzählt der 60jährige R.K. Zuletzt arbeitete er 16 Jahre lang als Geschäftsführer kleinerer Firmen, mit 58 wurde er überraschend entlassen. Doch habe er die nächsten zwei Jahre dank der Arbeitslosenversicherung und der Hoffnung auf eine neue Stelle gut überstanden. «Der viel härtere Schlag war die Aussteuerung. Das ist ein langsamer Erstickungstod: finanziell, gesundheitlich und sozial.» Trotz 300 Bewerbungen hat R.K. keinen neuen Job gefunden. R.K. ist kein Einzelfall. Gemäss Statistik des Amts für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich werden 51 Prozent der Arbeitslosen im Alter über 60 Jahren ausgesteuert. In der Sozialhilfe sind die 55- bis 64Jährigen die am schnellsten wachsende Gruppe. Seit 2010 stieg ihre Zahl von 17’000 auf 27’000 Personen – eine Zunahme von fast 60 Prozent. Wer ausgesteuert wird, sitzt in der Armutsfalle: So erhalten Alleinstehende erst dann Sozialhilfe, wenn ihr Vermögen unter 4000 Franken fällt und ihr Wohneigentum verkauft ist.

(NZZ am Sonntag, 7. Juli 2019)

Das einzige Argument für eine Erhöhung des Rentenalters besteht in der Behauptung, dass wir uns, weil die Menschen immer älter werden und damit während einer immer längeren Zeit eine Rente beziehen, das heutige Rentenalter schlicht und einfach nicht mehr leisten könnten. Es geht also um Geld. Um Geld, dass bei der AHV fehlt, wenn wir zu früh in Rente gehen. Um Geld, das auch zukünftigen Generationen von Rentnerinnen und Rentnern fehlen wird, wenn wir heute zu viel davon «verprassen». So weit so gut. Doch die Realität sieht, wie die im obigen Artikel erwähnten Zahlen belegen, ganz anders aus: Die Wirtschaft will gar nicht, dass über 60Jährige noch länger einen Arbeitsplatz haben, die Zahl jener, die schon ab 55 keine neue Stelle mehr finden und ausgesteuert werden, steigt explosionsartig. Und auch da geht es wieder um Geld: Um das Geld, das die Erwerbslosen von der Arbeitslosenkasse erhalten. Um das Geld, das die Ausgesteuerten zwecks Lebensunterhalt aus ihrem eigenen Sack berappen müssen, bis sie gerade mal noch ein Vermögen von 4000 Franken ihr eigen nennen. Um Geld, das in Form von Sozialhilfe geleistet wird. Und nicht selten auch um Geld, das von der IV geleistet wird für Menschen, die den steigenden Anforderungen der heutigen Arbeitswelt nicht mehr gewachsen sind. Wenn man also aus finanziellen Gründen eine Erhöhung der AHV-Renten fordert, dann müsste man ehrlicherweise einräumen, dass das Geld, welches dort gewonnen wird, dafür an anderen Orten wieder fehlt bzw. aufgebracht werden muss: bei der Arbeitslosenkasse, bei der Sozialhilfe, bei den Privatvermögen jedes Einzelnen, bei der IV. Was käme wohl heraus, wenn man alle diese Aufwendungen zusammenzählen würde? Der Systemfehler liegt darin, dass alle diese Kassen fein säuberlich voneinander getrennt sind und jede einzelne unabhängig von den anderen – und letztlich auf Kosten der anderen – für ihre Existenz kämpfen muss, schliesslich hat jene Kasse die Oberhand, welche das grösste politische Gewicht und die stärksten politischen Vetreterinnen und Vertreter hat. Die einzige vernünftige Lösung würde darin bestehen, alle diese Kassen zu einer einzigen zusammenzulegen, um nicht die eine gegen die andere auszuspielen. Vielleicht würde man dann beispielsweise, wenn man die steigenden Kosten für die Sozialhilfe und für die Unterstützung von Arbeitslosen in Betracht zieht, nicht mehr so leichtfertig eine Erhöhung des AHV-Alters fordern.