«Gute» und «böse» Mauernbauer

Die Schweizer Aussengrenze beginnt in Afrika. Genauer: südlich der Sahara. Dort, an den sandigen Grenzposten im Norden Nigerias, werden Migranten mithilfe des Bundes biometrisch erfasst. Das Ziel: Flüchtlinge davon abhalten, nach Europa zu kommen. «Verminderung der irregulären ­Migration», heisst das in Beamtendeutsch. Nigeria ist eines der wichtigsten Herkunftsländer von Einwanderern nach Europa. Täglich machen sich Menschen auf die gefährliche Reise Richtung Norden, fliehen vor Armut und Gewalt. Um diese Reise schon von Beginn weg zu erschweren, unterstützt die Schweiz die nigerianischen Grenzschützer mit 313’000 Franken. Das Geld fliesst über die Internationale Organisation für Migration (IOM) und wird vor Ort gebraucht, um Nigeria bei der «Datenerfassung im Grenzmanagement» zu unterstützen, wie es das Staats­sekretariat für Migration (SEM) in seinen Papieren formuliert. Weitere 60’000 Franken jährlich investiert das Bundesamt für Polizei (Fedpol) in die Zusammenarbeit mit der nigerianischen Polizei. Auch dabei geht es mitunter um die Bekämpfung der irregulären Migration. Die Gelder für Nigeria sind nur ein kleiner Teil der Schweizer Strategie, Flüchtlinge fernzuhalten. Längst baut der Bund kräftig mit an der Festung Europa. 345’000 Franken fliessen nach Ägypten in den «Kapazitätsaufbau zur Bekämpfung von Menschenschmuggel», 12’000 in die Kooperation mit der tunesischen Polizei. Und: 80’000 pro Jahr zahlt die Schweiz an die Ausbildung der maltesischen Küstenwache für Einsätze auf dem Mittelmeer. Malta hat ähnlich wie Italien einen harten Kurs gegen private Seenotretter wie die deutsche Kapitänin Carola Rackete eingeschlagen. Hinzu kommt das Schweizer Engagement bei Frontex, der europäi­schen Grenz- und Küstenwache. Die Schweiz ist in Griechenland, Italien, Bulgarien, Kroatien und Spanien aktiv. Mit 14 Millionen Franken unterstützte der Bund Frontex letztes Jahr. Dazu kommen 1457 Einsatztage von Schweizer Grenzwächtern, Kantonspolizisten und SEM-Beamten. Um die Flüchtlinge schon auf hoher See abzufangen, lässt sich der Bund auch mal auf Kooperationen mit fragwürdigen Partnern ein. So warf das SEM eine Million Franken auf, damit libysche Küstenwächter ausgebildet werden können und um deren Schiffe mit Material auszustatten. Zur besagten libyschen Küstenwache gehören mitunter auch bewaffnete Milizen, die die Migranten in überfüllte Lager auf dem afrikanischen Festland zurückzwingen. Regelmässig machen Schreckensmeldungen von Vergewaltigungen und Folter in den Lagern die Runde. Diese Woche wurden bei Luftangriffen auf ein Flüchtlingscamp in Tripolis 56 Menschen getötet.

(www.blick.ch)

Ein Schrei der Empörung ging durch ganz Westeuropa, als im August 1961 die Machthaber der damaligen DDR quer durch Berlin und an der Grenze zwischen der BRD und der DDR eine mit Minenfeldern und Stacheldrahtzäunen bewehrte Mauer errichten liessen, um DDR-Bürgerinnen und -Bürger davon abzuhalten, in den – vergleichsweise reicheren – Westen zu fliehen. Im Laufe der folgenden Jahre verloren mehrere hundert Flüchtlinge beim Versuch, diese Mauer zu überwinden, ihr Leben. Heute, fast 60 Jahre später, werden wieder Mauern gebaut. Nur sind es nicht mehr die «bösen» Kommunisten, die das tun, sondern die «guten» demokratischen Westeuropäer selber, ausgerechnet jene also, die sich damals über die «kommunistische» Mauer so empört zeigten. Worin liegt der Unterschied? Gibt es «gute» und «böse» Mauerbauer? Wohl kaum. Auch die neuen Mauern, mit denen Afrikanerinnen und Afrikaner davon abgehalten werden sollen, nach Europa zu gelangen, sind Mauern zwischen Armut und Reichtum, genau so wie die damaligen Mauern der DDR. Wiederum sollen Menschen, die unter Armut, Unterdrückung und Verfolgung leiden, daran gehindert werden, ein anderes Land aufzusuchen, das ihnen eine bessere Lebensperspektive bietet. Was die Grössenverhältnisse betrifft, so sind die von den heutigen Mauern zwischen Norden und Süden betroffenen Menschen wohl um ein Vielfaches zahlreicher als damals die betroffenen DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Und das heutige Wohlstandsgefälle zwischen dem Norden und dem Süden ist ebenfalls zweifellos um ein Vielfaches grösser als das damalige Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osteuropa. Dass die Schweiz – als reichstes Land der Welt – an diesem neuen Mauerbau an vorderster Front aktiv beteiligt ist, verwundert nicht sonderlich. Verwunderlich ist einzig, wie heimlich und unbeachtet von der politischen Öffentlichkeit dies alles geschieht. Wo bleibt heute jener Schrei der Empörung, der 1961 ganz Europa zum Zittern brachte?