Der Kapitalismus hat nicht Fehler, er ist der Fehler

Die Klimajugend hat am Wochenende anlässlich einer Plenarversammlung in Bern die Verabschiedung einer Charta beschlossen, die folgende Forderungen beinhaltet: Ausrufung des Klimanotstands, Klimaneutralität bis 2030 und Klimagerechtigkeit. Noch unklar ist, ob als vierter Punkt die Forderung nach einem «Systemwandel» in die Charta aufgenommen werden soll. Einen Systemwandel fordert ein grosser Teil der Klimajugend für den Fall, dass die ersten drei Forderungen «in unserem aktuellen System nicht erfüllt werden können». Wie radikal manche der jugendlichen Aktivisten einen Systemwechsel herbeiführen möchten, zeigt ein Blick auf die Internetkanäle, über die die Jugendlichen kommunizieren. Genannt werden etwa «die Verstaatlichung von Konzernen, die Abschaffung des Flugverkehrs, Sozialismus und Kommunismus». Es versteht sich von selber, dass solche Forderungen bei den Machtträgern des aktuellen Systems überaus geharnischte Reaktionen auslösen. So etwa sagt der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser: «Wem es ernst ist mit dem Klimaschutz, der verzichtet auf ideologischen Blödsinn. Zum Beispiel ist eine Welt ohne Flugreisen unrealistisch.»

(Tages-Anzeiger, 30. Juli 2019)

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Ein Systemwandel ist unumgänglich. Die Klimakrise ist ja nur eine der Krankheiten, von denen unsere Erde befallen ist. Eine andere ist die – stets noch wachsende – weltweite Kluft zwischen Arm und Reich. Eine dritte ist das unbeschreibliche Elend, in dem über eine Milliarde von Menschen leben und das dazu führt, das jeden Tag 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben müssen. Eine vierte ist das völlig sinnlose Wachstumsprinzip, dem die kapitalistische Wirtschaft unterworfen ist und das dazu führt, dass immer mehr Güter über immer weitere Strecken transportiert werden und ein immer grösserer Teil davon, weil gar nicht so viel verkauft werden kann, wieder vernichtet werden muss. Eine fünfte ist der wachsende Druck am Arbeitsplatz wie auch in den Schulen, wo der gegenseitige Konkurrenzkampf um die gesellschaftlichen Sonnenplätze immer drastischere Formen annimmt. Eine sechste ist, dass selbst in den «Wohlstandsländern» des Westens eine immer grössere Anzahl Menschen von dem, was sie bei voller Erwerbsarbeit verdienen, kaum mehr menschenwürdig leben können. Eine siebte ist die endlos wachsende Zunahme des Individualverkehrs, der regelmässige Verkehrskollaps in den Grossstädten und die damit verbundenen Belastungen durch Lärm und Schadstoffe. Eine achte sind die Luxusvergnügungen, die sich eine wachsende Minderheit der Weltbevölkerung in immer ungezügelterem Ausmass leisten kann, von fernen Flugreisen über Kreuzfahrten bis zum Flug in den Weltraum. Eine neunte sind die unzähligen Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie dort aus politischen oder existenziellen Gründen nicht mehr leben können, unzählige Gefahren der Flucht auf sich nehmen müssen und dabei entweder festgenommen und in Internierungslager eingesperrt werden, oder aber ihr Leben verlieren. Eine zehnte ist, dass ausgerechnet aus jenen Ländern, in denen nicht einmal alle Menschen genug zu essen haben, eine Unmenge an Lebensmitteln in jene Länder fliessen, wo sowieso schon alles im Übermass vorhanden ist. Gut und gerne könnte man hier noch viele weitere kleinere und grössere «Krankheiten» aufzählen, von denen unsere Erde befallen ist. Und fraglos ist auch, dass alle diese Krankheiten unauflöslich miteinander verbunden sind und eine zentrale, gemeinsame Ursache haben, nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem: Der Kapitalismus hat nicht Fehler, er ist der Fehler. Zu glauben, man könne die Klimakrise bewältigen und trotzdem am Kapitalismus festhalten, ist, mit den Worten von Ruedi Noser, nichts anderes als «ideologischer Blödsinn». Zu warten bis ins Jahr 2030, ob sich die Klimaziele innerhalb unseres heutigen Systems lösen lassen, und erst dann die Systemfrage zu stellen, ist nichts anderes als verlorene Zeit: Im Gegenteil, der Systemwandel müsste eigentlich die erste und wichtigste Forderung einer «Klimacharta» sein und alles andere wäre dann bloss eine logische Folge davon.