Gewerkschaften viel zu brav

Die Mitgliedsverbände des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes fordern für die Lohnrunde 2019/20 eine generelle Lohnerhöhung von zwei Prozent.

(Tages-Anzeiger, 7. September 2019)

Bescheidener geht es nun wirklich nicht mehr. Denn wer schon mit einem Lohn von 3800 oder 4000 Franken pro Monat nicht anständig leben kann, dem geht es auch mit einem Lohn von 3876 bzw. 4080 Franken nicht wirklich viel besser. Die Forderungen der Gewerkschaften müssten viel radikaler sein. Eigentlich müssten sie einen Mindestlohn von 5000 Franken fordern – selbst wenn das hier und jetzt als «unrealistisch» erscheinen mag, aber es würde wenigstens den ganzen Skandal aufdecken, dass es im reichsten Land der Welt immer noch Hunderttausende von Menschen gibt, deren Existenz selbst bei voller Erwerbsarbeit nicht gesichert ist, während Spitzenverdiener bis zu 300 Mal so viel verdienen wie die am schlechtesten Verdienenden. Wenn die Gewerkschaften eine generelle Lohnerhöhung von zwei Prozent fordern, so ist das ein beispielloser Kniefall vor der Arbeitgeberschaft, sie fordern nämlich genau so viel, wie dann höchstwahrscheinlich auch realisiert werden kann. Doch jedes Kind weiss, dass man, um etwas zu bekommen, möglichst ein Vielfaches davon fordern muss. Radikalere Forderungen bis hin zur Einführung eines Einheitslohns würden die allgemeine Diskussion beleben und längerfristig vielleicht sogar zu einem Zustand echter Lohngerechtigkeit führen. Hierzu aber müssten die Gewerkschaften aus dem kapitalistischen Denk- und Machtsystem ausbrechen und genau so selbstbewusst auftreten, wie das ihre Kontrahenten, die Arbeitgeberschaft, seit Jahrzehnten tun, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.