Ein Marshallpan für eine «neue Welt»

Dass sich die Gewerkschaft Unia am nationalen Klimastreik vom kommenden Samstag in Bern beteiligen wird, ist für die Moderatoren der Sendung «Rundschau Talk» ein gefundenes Fressen. Sie zerzausen ihren Studiogast, Unia-Präsidentin Vania Alleva, regelrecht, versuchen mit allen Mitteln, soziale und ökologische Anliegen gegeneinander auszuspielen, geben zu bedenken, dass höhere Abgaben auf Heizöl, höhere Benzinpreise und Abgaben auf Flugtickets vor allem die sozial Schwächeren überproportional treffen und zitieren einen Schreiner aus Zernez, der im Umkreis von 15 Kilometern arbeite und im Falle einer Benzinpreiserhöhung seine Existenz gefährdet sehe. Keine leichte Aufgabe für die Gewerkschaftssekretärin. Denn im Grunde haben die Moderatoren recht: Jede fiskalische Massnahme zum Zwecke des Klimaschutzes trifft die sozial Schwächsten am meisten. Dies, nämlich eine Erhöhung des Benzinpreises, führte ja in Frankreich zum Aufstand der «Gelbwesten» und zu einer regelrechten Erschütterung der französischen Regierung. Nun, auch Vania Alleva fällt zu diesem Thema nicht viel mehr als die Forderung nach «Lenkungsabgaben», damit die erhöhten Gebühren und Abgaben schliesslich wieder zu denen zurückfliessen, die sonst über die Massen belastet wären. Und dann spricht sie auch noch von einem «Marshallplan», mit dem auf breiter Ebene, unter Einbezug der sozialen Frage, ein ökologischer Umbau in grossem Stil vorangetrieben werden müsste – ohne die mögliche Stossrichtung eines solchen «Marshallplans» näher auszuführen.

(«Rundschau Talk», Schweizer Fernsehen SRF1, 25. September 2019)

Immer wieder zeigt sich in solchen Diskussionen, dass in unserem hochkomplexen kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem alles dermassen miteinander verknüpft und ineinander verschachtelt ist, dass man kaum an einem Ort einen Nutzen erreichen kann, ohne an einem anderen wieder einen Schaden anzurichten. Konkret: Wir retten das Klima, aber zerstören die Existenz eines Schreiners und seiner Familie in Zernez. Oder: Wir unternehmen keine Flugreisen mehr, aber vernichten Zehntausende von Arbeitsplätzen in den Flugzeugfabriken. Oder: Wir verzichten auf einen grossen Teil bisher aus fernen Ländern stammender Lebensmittel, aber werfen die Menschen, welche diese bisher angepflanzt und geerntet haben, vollends ins Elend. Deshalb braucht es wahrscheinlich, wie Vania Alleva richtigerweise meinte, tatsächlich so etwas wie einen «Marshallplan», nur in einem noch viel umfassenderen Sinn: eine radikale gesellschaftliche Neuordnung, einen Neubeginn von Anfang an, einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau, bei dem kein Stein auf dem andern bleibt. In dieser «neuen Welt» wären soziale Gerechtigkeit und Bewahrung der Lebensgrundlagen keine Gegensätze mehr, die man gegeneinander ausspielen kann, sondern, ganz im Gegenteil, die beiden Kehrseiten der gleichen Medaille. Noch sind wir von dieser neuen Welt meilenweit entfernt, aber wir nähern ihr uns jeden Tag ein bisschen mehr…