Kapitalismus: Nicht das Ende der Geschichte

Tag drei nach der historischen Schlappe: Das Präsidium der SP Schweiz trifft sich zur Lagebesprechung. Minus vier Sitze im Nationalrat, minus eins im Ständerat. Dann die 16,8 Prozent: So tief war der Wähleranteil noch nie. «So», sagt Co-Generalsekretär Michael Sorg, «können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.» Auch die Juso-Präsidentin Ronja Janssen ist nicht zufrieden: «Wir können die Menschen nicht begeistern mit einer lauwarmen Politik der Kompromisse.» Und auch für Nationalrat Cédric Wermuth ist klar: «Es darf nicht passieren, dass es in der Schweiz zu einem historischen Linksrutsch kommt und wir nicht davon profitieren. Die SP muss sich die Frage stellen, weshalb sie nicht Teil dieses Wandels ist.»

(W&O, 24. Oktober 2019)

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder rückt die SP weiter in die politische Mitte – dann wird sie erst recht immer mehr zwischen den frecher und kompromissloser agierenden Grünen auf der einen Seite und den bürgerlichen Parteien auf der anderen zerrieben werden. Oder sie besinnt sich wieder auf ihr historisches Grundanliegen der sozialen Gerechtigkeit, was aber zwangsläufig bedeutet, dass sie das Postulat einer «Überwindung des Kapitalismus» – wie es auch im aktuellen Parteiprogramm formuliert ist – wieder ins Zentrum ihrer politischen Arbeit stellen muss. Denn es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne eine Überwindung des Kapitalismus, alles andere ist Flickwerk und Augenwischerei. Dass die Jusos, von denen nun einige in den Nationalrat gewählt worden sind, genau diese Stossrichtung fordern, gibt viel Hoffnung – vorausgesetzt, die «arrivierten» und «traditionalistischen» Vertreter und Vertreterinnen der SP sind bereit, auf sie zu hören und von ihnen zu lernen. Geht es um die Überwindung des Kapitalismus, ist allerdings dreierlei zu bedenken. Erstens: Dieses Ziel des Aufbaus einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung lässt sich nur verwirklichen in einer globalen Zusammenarbeit sämtlicher antikapitalistischer Parteien, Gruppierungen und Bewegungen, die nicht an den einzelnen nationalen Grenzen Halt macht, sondern diese überwindet. Zweitens: Der Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung darf sich nicht an historisch gescheiterten Gesellschaftsmodellen wie etwa dem Kommunismus orientieren, sondern muss etwas von Grund auf Neues sein und sich nur an den Lebens- und Zukunftsbedürfnissen der hier und heute lebenden Menschen orientieren. Drittens: Eine Vision zu verfolgen, bedeutet nicht, das Alltagsgeschäft und die politische Kleinarbeit zu vernachlässigen. Beides muss gleichzeitig mit gleicher Leidenschaft und Energie vorangetrieben werden: Eine neue Welt aufzubauen und ebenso in der alten Welt, in der wir noch leben, den Menschen das Leben so erträglich zu machen wie nur irgend möglich. Dann müsste sich die SP bei den nächsten Wahlen nicht mehr mit einem Wähleranteil von 16,8 Prozent zufrieden geben. Diese 16,8 Prozent hätte sie mit einer glaubwürdigen Sozial- und Umweltpolitik wieder auf sicher. Dazu aber kämen viele zusätzliche Wählerinnen und Wähler, für die der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist und die von einer friedlichen, gerechten und für alle Menschen lebenswerten Zukunft träumen.