Sichtbare und unsichtbare Formen von Gewalt: zweierlei Mass

Revolutionäre Ideen und radikale Systemkritik, verbunden mit einer gefährlichen Nähe zur Gewalt: Das Portal Linksunten.indymedia, über das linke Aktivisten und Globalisierungsgegnerinnen bis zur Antifa kommuniziert hatten, wurde im Sommer 2017 vom damaligen deutschen Innenminister Thomas de Maizière verboten. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Verbot bestätigt.

(Tages-Anzeiger, 31. Januar 2020)

Ich bin auch dafür, dass man Internetportale, die zu Gewalt aufrufen, verbietet. Konsequenterweise müsste man dann aber auch das Internetportal der Crédit Suisse und zahlreicher weiterer Grossbanken verbieten, haben deren Investitionen in die Produktion und den Handel mit Rohstoffen und Bodenschätzen doch nicht nur für die dortige Bevölkerung, sondern auch für Tiere und Pflanzen unabsehbare tödliche Folgen heute und in der Zukunft. Und auch die Internetportale der meisten Anbieter von Elektrogeräten, Textilien und Spielsachen, die in Billiglohnländern hergestellt werden, müsste man schliessen, denn auch Nachtarbeit, 16-Stunden-Arbeitstage, Kinderarbeit, Arbeiten im Akkord und Hungerlöhne sind Formen von Gewalt. Und erst recht müsste man über die Internetportale von Rüstungsfirmen ein Verbot verhängen, werden hier doch Produkte angepriesen, deren einziges Ziel es ist, andere Menschen möglichst treffsicher und kostengünstig umzubringen. Gewalt ist eben nicht Gewalt. Es gibt sichtbare Gewalt und es gibt unsichtbare Gewalt. Sichtbare Gewalt, das sind Demonstranten, die Pflastersteine oder Molotowcocktails werfen, Fassaden verschmieren oder Polizisten in Scharmützel verwickeln. Die unsichtbare Gewalt, deren Folgen weitaus viel gravierender sind, das ist die Gewalt des herrschenden kapitalistischen Machtsystems, das wir alle aber so sehr von klein auf verinnerlicht haben, dass uns seine Gewalttätigkeit schon gar nicht mehr bewusst ist und wir im Gegenteil uns sogar in der Illusion wiegen, es wäre doch alles so schön und friedlich, wenn es bloss nicht ein paar fehlgeleitete Chaoten und Krawallmacher gäbe. Systemgewalt und Individualgewalt – zu diesem Thema müsste es ein neues Internetportal geben, darüber müsste man diskutieren. Dringend nötig wäre es…