Rassismus von Weissen gegen Schwarze: Nur eine von unzähligen Formen von Gewalt

In Südafrika gehört es zur bitteren Wahrheit, dass Polizei und Armee ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Apartheid zum grössten Teil aus Schwarzen und Coloureds bestehen, sich aber am brutalen Vorgehen oft wenig geändert hat. Zwar wurde der South African Police das Wort Service hinzugefügt, für viele vor allem ärmere Südafrikaner ist die Polizei aber weiterhin eher Feind als Freund und Helfer.

(Tages-Anzeiger, 13. Juni 2020)

Das Beispiel südafrikanischer schwarzer Polizisten, die sich ebenso brutal verhalten wie ihre weissen Berufskollegen in den USA oder anderswo, zeigt, dass der weisse Rassismus und die weisse Polizeigewalt, die von der Bewegung “Black Lives Matter” angeprangert werden, bloss die Spitze eines Eisbergs bilden, der sich weltweit in unzähligen mehr oder weniger drastischen Formen manifestiert. Gewalt und Machtmissbrauch findet nicht nur zwischen weissen Polizisten und ihren schwarzen Opfern statt. Gewalt übt auch der Aufseher in einer Textilfabrik Bangladeshs aus, der seine Arbeiterinnen prügelt, ihnen keine Pausen gönnt oder sich sogar an ihnen sexuell vergreift. Gewalt übt auch der multinationale Konzern aus, der aus seinen Fabriken so viele giftige Gase in die Umwelt auslässt, dass die meisten Menschen, die dort leben, von frühzeitigem Tod betroffen sind. Gewalt üben auch staatliche Behörden aus, die einem Flüchtlingsschiff im Mittelmeer die Einreise verweigern und namenlose Männer, Frauen und sogar Kinder skrupellos ihrer unbeschreiblichen Verzweiflung überlassen. Gewalt üben auch jene spanischen Plantagenbesitzer aus, auf deren Feldern sich Männer und Frauen aus Afrika für einen Hungerlohn zu Tode arbeiten müssen. Gewalt üben auch unzählige Männer aus, die Prostituierte oder sogar ihre eigenen Frauen schikanieren oder sogar zu Tode quälen. Gewalt üben auch all jene Firmen aus, welche den dort arbeitenden Frauen immer noch geringere Löhne auszahlen als den Männern. Gewalt üben auch all jene Politiker aus, die immer noch so tun, als wäre der Klimawandel eine Erfindung einiger hysterischer Jugendlicher, Politiker, die mit ihrer Gleichgültigkeit oder sogar aktivem Widerstand das Leben ganzer zukünftiger Generationen aufs Spiel setzen. Die “Black Lives Matter”-Bewegung ist gut und wichtig und hat schon sehr viel in Bewegung gebracht. Aber eigentlich müsste sie ausgeweitet werden zu einer Bewegung gegen jegliche Gewalt und jeglichen Machtmissbrauch weltweit in allen Formen. Denn es nützt nichts, wenn bloss zukünftig weisse Polizisten in den USA schwarze Menschen respektvoll und anständig behandeln, so lange alle übrigen Formen von Gewalt weltweit unvermindert weitergehen. Und dann wäre es nur noch logisch, dass sich die Frauenbewegung und die Klimabewegung und die Bewegung für die Rechte Homosexueller und die “Black Lives Matter”-Bewegung und all die gewerkschaftlichen Bewegungen für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen nach und nach miteinander verbinden würden zu einer grossen gemeinsamen Bewegung gegen weltweite Gewalt und weltweiten Machtmissbrauch in allen Formen. Was für eine Vision!