Frauenstreik: Noch ein weiter Weg bis zum Ende aller Ungerechtigkeit

In wenigen Wochen schwärmen die Orangenpflückerinnen und Orangenpflücker wieder aus: Auf den fruchtbaren Böden im Norden von São Paulo beginnt im Juli die Ernte. Rund 200’000 Familien leben vom Pflücken der saftig-süssen Früchte, die später zu Orangensaft verarbeitet werden. Sie holen sie von Hand von den Bäumen. Es ist eine harte Arbeit, bei grosser Hitze und hohem Druck. Denn ein Arbeiter oder eine Arbeiterin muss rund 3000 Kilogramm pro Tag ernten – das entspricht mehr als 70 Kisten. Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye hat zusammen mit der brasilianischen Organisation Reporter Brasil die Arbeitsbedingungen untersucht. Gestossen sind sie auf zahlreiche teils schwerwiegende Männer. So wurden in den letzten zehn Jahren rund 200 Verstösse gegen das Arbeitsgesetz aufgedeckt. Die Hälfte davon betreffe die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Laut Public Eye wurde dem Unternehmen einmal eine Strafe von 120’000 Franken aufgebrummt, weil 34 Arbeiter in einem einstigen Hühnerstall untergebracht worden waren.

(Tages-Anzeiger, 15. Juni 2020)

Auch beim gestrigen Frauenstreik in Zürich und anderen Städten ging es um Gerechtigkeit und um den Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Dabei geht aber nur zu oft vergessen, dass Ungerechtigkeit und Ausbeutung nicht nur Frauen betrifft. Auch Männer können Ausgebeutete sein und Frauen Ausbeuterinnen. Oder ist, um beim Beispiel der brasilianischen Orangenpflückerinnen und Orangenpflücker zu bleiben, die schweizerische oder deutsche Konsumentin, welche sich im Supermarkt zu günstigem Preis einen Orangensaft kauft, nicht auch, in der langen Produktionskette von der gepflückten Frucht bis zum fertigen Süssgetränk, eine Ausbeuterin jener Arbeiterinnen und Arbeiter, welche unter unmenschlichen Bedingungen die Früchte ernten? Und ist Frau Schweizer, die es sich an Bord eines Kreuzfahrtschiffs wohl ergehen lässt, nicht auch eine Ausbeuterin der Köche, die im Bauch des Schiffs in höllischer Hitze und unter gnadenlosem Zeitdruck jene Speisen zubereiten, welche sie und ihr Mann dann lustvoll geniessen? Und sind all die Frauen, die ein Smartphone besitzen, letztlich nicht auch Ausbeuterinnen all jener Abertausender namenloser Minenarbeiter, die unter Lebensgefahr die für die Herstellung der Smartphones notwendigen Rohstoffe aus dem Boden Kongos oder Senegals schürfen? Und sind all die Frauen, welche sich Schuhe, Kleider, Sportgeräte oder andere Luxusartikel kaufen, nicht auch Ausbeuterinnen all jener Lastwagenfahrer, die unter permanentem Zeitdruck zu geringem Lohn all die Waren von den Fabriken zu den Orten transportieren, wo sie dann verkauft werden? Das Geschlecht ist nur einer von vielen Faktoren für Benachteiligung, Diskriminierung und Ausbeutung. Ein anderer, mindestens so wichtiger Faktor ist die Stellung innerhalb der weltweiten kapitalistischen Machtpyramide. “Gegen den Kapitalismus” stand an der gestrigen Frauendemo in Zürich auf einem der Plakate. Das trifft ins Schwarze. Gerechtigkeit wird noch nicht erreicht sein, wenn die Frauen alle ihre gegenwärtigen Benachteiligungen gegenüber den Männern überwunden haben werden. Gerechtigkeit wird erst dann erreicht sein, wenn der Kapitalismus überwunden sein wird und damit auch jegliche Form von Ausbeutung und Diskriminierung, ganz egal ob Männer oder Frauen, Schwarze oder Weisse, Kinder oder Erwachsene davon betroffen sind.