Die Freie Marktwirtschaft als Erfolgsmodell für alle Ewigkeit?

Der Skandal rund um den insolventen Zahlungsdienstleiter Wirecard und all die Betrügereien, die nun nach und nach ans Tageslicht gelangen, kann man nicht der freien Marktwirtschaft in die Schuhe schieben. Nein, die freie Marktwirtschaft hat die Welt über Jahrzehnte besser gemacht, sie hat technischen Fortschritt ermöglicht und soziale Errungenschaften finanziert, und besonders gut hat sie dort funktioniert, wo die Wirtschaftsordnung einen gesetzlichen Rahmen bekommen hat. Die freie Marktwirtschaft ist, bei allen Fehlern, der kongeniale Begleiter der politischen Freiheit.

(Marc Beise, in: Tages-Anzeiger, 6. Juli 2020)

Marc Beise fällt es wohl nicht schwer, das Loblied auf die freie Marktwirtschaft anzustimmen. Schliesslich lebt er auf der Sonnenseite dieses Systems, das sich dadurch auszeichnet, dass es zwei extrem gegensätzliche Seiten hat: hier Reichtum und Wohlstand, dort Hunger, Armut und Elend. Wenn Beise behauptet, die freie Marktwirtschaft habe die Welt über Jahrzehnte besser gemacht, dann ist das schlicht und einfach falsch. Während etwa eine Milliarde Menschen weltweit in relativ grossem Wohlstand leben und die Zahl der Milliardäre sogar von Jahr zu Jahr ansteigt, müssen sich rund zwei Milliarden Menschen mit einem Tagesverdienst von weniger als einem Dollar zufrieden geben und jeden Tag sterben rund zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen und zu trinken haben. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich nur für einen kleinen Teil der Menschheit im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte verbessert. Immer noch schuften Milliarden von Menschen unter unwürdigen, sklavenartigen Bedingungen zu Hungerlöhnen, von den chinesischen Wanderarbeitern über die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und die Minenarbeiter im Kongo bis zu den Plantagenarbeitern in Honduras und Brasilien. Und erst recht was die Zukunft betrifft, weist die freie Marktwirtschaft alles andere als eine Erfolgsbilanz aus, ganz im Gegenteil: Mit dem von ihr verursachten Raubbau an Natur und Erde und dem immensen und laufend nach wachsenden Ausstoss von Schadstoffen in den Boden und in die Luft ist die freie Marktwirtschaft auf dem besten Wege, die gesamte Erde für die Menschen früher oder später unbewohnbar zu machen. Wenn Beise behauptet, die freie Marktwirtschaft sei die kongeniale Begleiterin der politischen Freiheit, dann unterliegt er auch in diesem Punkt einem gewaltigen Irrtum. Wie Reichtum und Wohlstand, so ist auch die Freiheit bloss ein Privileg jener, die auf der Sonnenseite des Systems leben – auf der anderen Seite sind politische Unterdrückung, Unfreiheit, Knechtschaft und Sklaverei weltweit umso erdrückender. Besonders grotesk ist die Feststellung, die freie Marktwirtschaft habe soziale Errungenschaften finanziert. Denn das Geld, mit dem die freie Marktwirtschaft staatliche Aufgaben finanziert, kommt ja letzten Endes aus der konkreten, produktiven Arbeit von Menschen: Keine Firma kann Gewinne generieren, wenn nicht die in ihr tätigen Arbeiterinnen und Arbeiter weniger verdienen als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. Und ebenfalls kann auch der beste Staat nur so viel Steuern eintreiben, als zuvor den arbeitenden Menschen abgeknöpft worden ist. Mit anderen Worten: Wenn also die freie Marktwirtschaft soziale Errungenschaften leistet, dann nur mit Geld, das sowieso den Menschen und niemand anderem gehört – hierfür braucht es keine Marktwirtschaft, man hätte das Geld von Anfang an in der Hand der Bevölkerung lassen können. Immerhin räumt Beise ein, dass die freie Marktwirtschaft vor allem dort gut funktioniere, wo sie einen gesetzlichen Rahmen bekommen habe. Heisst das nicht, dass die freie Marktwirtschaft von Natur aus eben doch nicht ganz so gut ist und deshalb eben einen gesetzlichen Rahmen brauche, um nicht zu überborden und der freien Gier nach Geld und Profit freien, ungehinderten Lauf zu lassen.