Nähereien in England: Zustände wie in Bangladesh

Mit flinken Händen schieben sie die Stoffe durch die ratternden Nähmaschinen. Ein gebeugter Rücken reiht sich an den andern. Der Notausgang am Ende der stickigen Halle ist verbarrikadiert. Viele der gut hundert Frauen, die hier arbeiten, sehen müde aus. Gerade jetzt in Zeiten von Corona müssen sie Überstunden leisten. Selbst wer krank ist und sich mit Covid-19 infiziert hat, muss weiter schuften. Niemand lehnt sich auf, vielmehr droht jeder Arbeiterin, die sich beklagt, die Kündigung. Da viele von ihnen illegal beschäftigt sind, sind sie ihrem Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert. Zudem gibt es weder Masken noch Abstandsregeln. Solche Szenen spielen sich nicht etwa in einer Nähfabrik in Bangladesh ab, sondern in den Sweatshops in der Stadt Leicester mitten in England. Die Frauen nähen hier für einen Hungerlohn, der nicht einmal der Hälfte des britischen Mindestlohns entspricht. Viele der tausend zum Teil illegalen Nähereien hielten auch während des landesweiten Corona-Lockdown den Betrieb aufrecht, um für Grosskunden wie die britische Textilmarke Boohoo produzieren zu können. Die tiefen Preise, mit denen Boohoo vor allem bei Teenagern Werbung macht, verlangen nach möglichst tiefen Kosten. Die Lieferanten von Boohoo treffen sich wöchentlich am Hauptsitz des Konzerns in Manchester, wo die Aufträge an die Nähfabriken vergeben werden. Den Zuschlag erhält jeweils die Näherei, die etwa einen Minijupe für 4 statt für 5 Pfund (4 Franken 75 statt 5 Franken 95) produzieren kann. Im Jargon heisst dies: die Suche nach der “billigsten Nadel”. Das sei wie auf dem Viehmarkt, hatte ein Händler einer parlamentarischen Untersuchungskommission erklärt, die ihren Bericht zu den Zuständen in der Branche Anfang vergangenen Jahres veröffentlichte.

(NZZ am Sonntag, 12. Juli 2020)

Ob die Schlachthöfe von Tönnies in Deutschland, die Erdbeerplantagen in Spanien oder eben die Textilfabriken in England: Wer sich immer noch eingebildet hat, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gäbe es nur in Billiglohnländern wie Indien, Vietnam oder Brasilien, dem müssten spätestens jetzt die Augen aufgehen: Längst verlaufen die Grenzen zwischen Arm und Reich, zwischen Ausbeutern und Ausbeuteten nicht mehr zwischen Ländern und Kontinenten. Sie gehen mitten durch jedes kapitalistische Land hindurch und teilen in jedem dieser Länder in mehr oder weniger drastischem Ausmass die Menschen in Gewinner und Verlierer – und der Graben zwischen ihnen wird gar von Tag zu Tag noch tiefer. Glücklicherweise – und das ist das Gute daran – wird dieses unvorstellbare, grenzenlose Leiden nicht zuletzt infolge der Coronakrise offensichtlich einer immer breiteren Öffentlichkeit zunehmend bewusst. So hat eine unlängst in Grossbritannien durchgeführte Umfrage ergeben, dass 54 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass es nach der Coronakrise nicht mehr so weitergehen dürfte wie bisher, es bräuchte eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung und mehr Respekt gegenüber der Natur. Umfragen in Deutschland haben ein ähnliches Resultat ergeben. Darf man also, trotz all der Schreckensmeldungen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, vielleicht doch noch ein klein wenig Hoffnung schöpfen?