Globaler Tourismus: Nicht nur ein globales Wirtschaftssystem, sondern auch ein globales Ausbeutungssystem

Vor Corona: 700 Millionen Touristen reisen pro Jahr in der Welt herum, 320 Millionen Arbeitsplätze hängen an der Reiserei. “Der Massentourismus”, so der Ökonom und Währungsexperte Uf Lindahl, “das sind nicht nur Touristen in Hotels, das ist ein ganzes Wirtschaftssystem.” Es beginnt mit den Flugzeugbauern und ihren riesigen Wertschöpfungsketten. Die Flughäfen und ihre Zulieferketten. Die Transportmittel, die Touristen in Hotels bringen. Dazu kommen die Gastronomie und ihre Zulieferketten. Aber auch die Museen und Geschäfte, bis zu den Strassenmusikanten und Bettlern. “Alle sind in einem riesigen Netz miteinander verwoben und alle leben vom gleichen Geldfluss, der von den Touristen kommt”, so Lindahl. Es sei wie bei Moskitos, die vom selben Blut saugten. Mit den Reiseverboten und Restriktionen sei die Blutbahn infiziert worden, so Lindahl. Und deshalb würden die Verluste massiv sein für alle. Die Harvard-Professorin Carmen Reinhart spricht sogar von einem “Ende der Globalisierung” und einem “weltweiten massiven Anstieg der Armut”.

(www.srf.ch)

Der globale Tourismus ist nicht nur ein ganzes Wirtschaftssystem, sondern vor allem auch ein globales Ausbeutungssystem. Während rund zehn Prozent der Weltbevölkerung das Privileg geniesst, praktisch zu jedem beliebigen Zeitpunkt an jeden beliebigen Ort auf dem Globus reisen zu können, sind Hunderte von Millionen Menschen, die in Tourismusdestinationen leben, gezwungen, zur Befriedigung der Bedürfnisse der Reichen meist zu Hungerlöhnen härteste Arbeit zu verrichten. Sonnige Badestrände am Meer, Safaris und das Reisen mit einem Kreuzfahrtschiff, das alles ist nur die eine Seite der Medaille, die glänzende und schöne. Die andere, die hässliche, das ist die Arbeit des Kochs bei 40 Grad und unter höllischem Zeitdruck im Bauch das Kreuzfahrtschiffs. Der Schweiss und die Schmerzen im Rücken und in den Beinen des griechischen Zimmermädchens, das im Akkord Zimmer um Zimmer herrichten muss und dabei fast nicht zum Atmen kommt. Die Last auf dem Rücken des Sherpas, der Unmenschliches leistet, damit seine europäischen oder nordamerikanischen Auftraggeber zuletzt leichten Fusses die höchsten Gipfel der Erde ersteigen können. Die brasilianische Tänzerin in einem mexikanischen Nachtclub, die stundenlang und ohne Pause tanzen muss, damit die Männer aus den reichen Ländern des Nordens auf ihre Rechnung kommen und der Barbesitzer genug Geld einkassieren kann, um sich ein noch teureres Auto leisten zu können. Die Prostituierte in Pattaya, die nicht selten schmerzvollste, erniedrigendste und gefährlichste Arbeit verrichten muss für einen Hungerlohn, von dem sie gerade mal knapp überleben kann. Wenn, im Gefolge der Coronakrise, der globale Tourismus zusammenbricht, dann bricht auch ein globales Ausbeutungssystem zusammen. Und wäre das nicht eine Chance, den Tourismus neu zu denken, ihm ein neues Gesicht zu verleihen? Müssten das Reisen und das Ferienmachen und der Tourismus nicht ein Recht für alle statt bloss ein Privileg für einen Zehntel der Weltbevölkerung sein? Hat der indische Reisbauer oder die brasilianische Kakaoarbeiterin nicht genau das gleiche Recht auf eine regelmässige genussvolle Auszeit von ihrer Arbeit, auf das Kennenlernen anderer Regionen ihres Landes oder auf die Begegnung mit anderen Menschen ausserhalb ihres Dorfes? Vielleicht ist ja das, was heute geschieht, nämlich dass immer mehr Menschen ihre Ferien im eigenen Land verbringen, ein erster kleiner Schritt in diese Richtung…