Klimaerwärmung: Eine gut investierte Viertelstunde pro Tag…

“Ewiger Frost” nennen es die Jakuten im östlichen Sibirien, sie haben ihr Leben darauf eingerichtet. Doch wenn der Boden, als Folge der Klimaerwärmung, zu weit in die Tiefe hinein taut, dann gerät hier alles aus dem Gleichgewicht. Es beginnt unter der Oberfläche. Dort zieht sich das Eis durch den Boden, wie Venen. Wo es taut und flüssig wird, sackt die Erde dann metertief ein. Ein Netz aus Gräben, dazwischen bleiben Hügel. Wenn sich dann Wasser in den Gräben sammelt, taut der Boden noch schneller, irgendwann verschwinden selbst die Hügel in einem See. Das geschmolzene Eis hinterlässt riesige Hohlräume. Manchmal fallen hier sogar Kühe in Löcher hinein, ganze Dörfer rutschen weg, Schienen verbiegen sich, Minen werden geflutet, Felder verderben. Dazu kommt, dass infolge immer längerer und trockenerer Sommer auch die Zahl der Waldbrände jährlich zunimmt.

(Tages-Anzeiger, 29. August 2020)

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem längeren Artikel im heutigen “Tages-Anzeiger” über die Auswirkungen der Klimaerwärmung im Nordosten Sibiriens. Die Lektüre des ganzen Artikels nimmt eine gute Viertelstunde in Anspruch. Ich würde eine Wette eingehen, dass alle, welche diesen Artikel aufmerksam und vorurteilsfrei gelesen haben, nicht mehr einfach so sang- und klanglos zur Tagesordnung übergehen könnten, ausser, sie würden es schaffen, das Gelesene sogleich wieder zu verdrängen oder zu vergessen oder sich so schnell wie möglich in eine andere Aktivität zu stürzen. Würde aber dennoch etwas davon an ihnen hängenbleiben und würden sie vielleicht in den folgenden Tagen immer wieder ähnliche Artikel lesen, dann müssten sie, wenn sie nicht gänzlich unempfindlich wären, sich wohl früher oder später über den Termin der nächsten Klimademonstration erkundigen, um sich daran zu beteiligen. Das Problem ist nur: Wer liest heute noch Artikel, deren Lektüre eine Viertelstunde in Anspruch nimmt? Viel lieber zappen wir doch von Meldung zu Meldung am Fernsehen oder im Internet und verscheuchen jeden Anflug eines tiefergehenden Gedankens sofort wieder durch den nächsten. Seltsam, für das Training im Fitnessclub, für die Sauna, für das Joggen oder für die Yogastunde reservieren wir uns gut und gerne noch so viel Zeit, in der dann alles andere keinen Platz mehr hat und wir in unser Innerstes abtauchen. Wie wäre es, wenn wir uns täglich auch die gebührende Zeit nähmen, um solche Berichte wie jenen über die Jakuten im östlichen Sibirien zu lesen? Das mag im Augenblick schmerzvoller und unangenehmer sein, letztlich aber umso heilvoller, weil es zu einer Haltung und zu einem Engagement führen kann, das weit über jenen persönlichen “Seelenfrieden” hinausgeht, den uns das Joggen oder eine Yogastunde bescheren.