Arbeit als Selbstverwirklichung und Arbeit als gesellschaftliche Notwendigkeit: Alles auf alle gerecht verteilen

 

“Die Hoffnung besteht darin, dass wir durch eine sehr starke Veränderung des Bildungssystems die Heranwachsenden dazu befähigen, so viel wie möglich aus ihrem Leben zu machen, und zwar nicht einzig unter der Frage, ob das Ganze für Geld entlohnt wird. Das heisst, dass wir aufgrund des Strukturumbruchs allmählich von einer Gesellschaft, in der der grösste Teil der erwachsenen Bevölkerung einer Lohnarbeit nachgeht, in eine Gesellschaft kommen, in der sehr viele Menschen keiner Lohnarbeit nachgehen.”

(Richard David Precht, Philosoph, in: NZZ am Sonntag, 20. September 2020)

 

Was für eine schöne Idee: Alle Menschen machen das Beste aus ihrem Leben, verwirklichen ihre Zukunftsträume, verrichten nur noch Arbeiten, die ihnen Freude und Spass machen. Doch das Ganze hat einen grossen Haken: Wer krümmt dann noch seinen Rücken über dem Feld, um das Gemüse für unseren täglichen Nahrungsbedarf zu decken? Wer steht dann noch an den Fliessbändern in den Fabriken? Wer putzt im Zug, in den Restaurants, in den Schulen und den öffentlichen Anlagen die Toiletten? Wer kümmert sich um die Entsorgung des täglich anfallenden Abfalls? Die einfachste und gerechteste Lösung würde darin bestehen, dass jeder Mensch während der Hälfte seiner Arbeitszeit jener beruflichen Tätigkeit nachgehen könnte, in der er seine Talente und Begabungen am besten entfalten kann und welche die Voraussetzung bildet für ein reiches, erfülltes Leben. Während der anderen Hälfte seiner Arbeitszeit aber übernimmt er eine gesellschaftlich relevante Aufgabe, die man normalerweise freiwillig nicht wählen würde, die aber unabdingbare Voraussetzung ist für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft. Das wäre dann so etwas wie ein lebenslanger Zivildienst. Heute noch haben nur ein Bruchteil der Menschen das Privileg, einen Beruf ausüben zu können, in dem sie ihre Interessen und Talente voll ausleben können. Der andere Teil ist dazu verknurrt, all jene Tätigkeiten auszuüben, die übrig bleiben und die häufig unangenehm, besonders anstrengend und dennoch schlecht entlöhnt sind und erst noch kaum etwas zu tun haben mit der Verwirklichung von persönlichen Begabungen und Interessen. “Wenn man mit seiner Arbeit nicht verbunden ist”, sagt auch der bekannte Bildhauer und Architekt Ernö Rubik, der Erfinder des legendären Zauberwürfels, “ist das eine schlechte Sache.” Ein Modell, in dem Arbeit zur persönlichen Selbstverwirklichung und Arbeit als gesellschaftliche Notwendigkeit je zur Hälfte von allen Menschen getragen würden, wäre daher nicht nur viel gerechter als die heutige Situation, sie würde auch zu einer wertvollen sozialen Durchmischung führen und zur gegenseitigen Wertschätzung zwischen den einzelnen beruflichen Tätigkeiten. Nun, das skizzierte Modell mag auf den ersten Blick völlig utopisch oder gar absurd erscheinen. Doch wie sagte schon wieder Albert Einstein? “Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd erscheint, gibt es keine Hoffnung für sie.”