Antigone, Wilhelm Tell, Rosa Parks und die Klimabewegung auf dem Bundesplatz in Bern

 

Die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen, die am 21. und 22. September 2020 den Berner Bundesplatz friedlich besetzten, beriefen sich bei ihrer Aktion auf das Recht auf zivilen Ungehorsam. Dieser zivile Ungehorsam sei angesichts der weltweit drohenden Klimakatastrophe höher zu gewichten als jenes Gesetz aus dem Jahre 1925, wonach politische Manifestationen auf dem Bundesplatz zur Zeit von Sessionen des National- und Bundesrates verboten sind. Die Frage des Rechts auf zivilen Ungehorsam beschäftigt die Menschen seit Jahrhunderten. Antigone, so eine uralte griechische Legende, liebte ihre beiden Brüder Polyneikes und Eteokles gleichermassen. Doch die beiden gerieten in Streit und töteten sich gegenseitig. König Kreon aber wollte nur Eteokles standesgemäss bestatten lassen. Polyneikes hingegen, der gemäss Kreon das Vaterland verraten hätte, sollte den wilden Tieren zum Frass vorgeworfen werden. Wer versuche, Polyneikes zu bestatten, der werde mit dem Tode bestraft. Doch Antigone stellte ihr eigenes Gewissen über das Gesetz und glaubte, den Göttern mehr gehorchen zu müssen als den Menschen. Sie leitete die von den Göttern vorgeschriebenen Bestattungsrituale ein, wurde aber von einem Wächter entdeckt und von Kreon ins Gefängnis geworfen. Noch heute gilt Antigone als Urbild des passiven Widerstands und zivilen Ungehorsams, unzählige Bücher und Theaterstücke wurden über ihre Geschichte verfasst. Und in der kollektiven Menschheitserinnerung ist nicht der tyrannische Kreon der Held, sondern die mutige Antigone, die es wagte, sich aufgrund ihres Gewissens den Gesetzen Kreons zu widersetzen. Auch Wilhelm Tell ist ein solches Urbild eines Menschen, der es wagte, sich gegen bestehende Gesetze aufzulehnen, indem er sich weigerte, dem auf einem Pfahl aufgesteckten Hut des Landvogts Gessler die Ehre zu erweisen. Und wie Antigone, so ist auch Wilhelm Tell als Freiheitsheld dank seiner Unerschrockenheit und seines Mutes in die Geschichte eingegangen – ganz im Gegensatz zum “Bösewicht” Gessler. Und schliesslich wäre da noch Rosa Parks, eine 42jährige Schwarze, die sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weissen Fahrgast zu überlassen, der sich auf das Gesetz berief, wonach Schwarze ihre Plätze für Weisse freigeben müssten, wenn es nicht genug Sitzplätze für alle hätte. Der Busfahrer rief daraufhin die Polizei und bestand auf ihrer Verhaftung. So wurde Parks wegen Störung der öffentlichen Ruhe festgenommen, angeklagt und zu einer Strafe von 14 Dollar verurteilt. Dieses Ereignis war der Auslöser für jene gigantische Bürgerrechtsbewegung, welche unter der Führung von Martin Luther King schliesslich die Gleichberechtigung der schwarzen mit der weissen Bevölkerung entscheidend voranbrachte. Und auch hier: In die Geschichte eingegangen ist weder jener Busfahrer noch jener weisse Fahrgast, der Rosa Parks zum Aufstehen aufrief. In die Geschichte eingegangen ist Rosa Parks, wegen ihres Mutes und ihrer Entschlossenheit, sich über Gesetze hinwegzusetzen, welche die Ungleichbehandlung von Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe legalisiert hatten. Was haben die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen auf dem Berner Bundesplatz anderes getan als Antigone, Wilhelm Tell und Rosa Parks? Auch sie haben sich gegen ein Gesetz aufgelehnt, das völlig willkürlich und ohne stichhaltige Begründung erlassen wurde und dies ausgerechnet für jenen Zeitraum, da ein Dialog zwischen gewählten Volksvertretern, Volksvertreterinnen und ausserparlamentarischen Gruppen besonders wertvoll, wichtig und fruchtbar wäre. Und so wie Antigone den Göttern mehr gehorchte als den Menschen, so folgten die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen ihrem Gewissen mehr als einem Machtwort, das im Jahre 1925 erlassen wurde. Antigone, Wilhelm Tell und Rosa Parks zeigen, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht durch Anpassung und Bravheit entsteht, sondern durch Auflehnung und Widerstand gegen Regeln und Gesetze, die nicht den universellen Menschenrechten entsprechen. So viel jedenfalls können sich die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen des Berner Bundesplatzes auf ihre Fahnen schreiben: In die Geschichte eingehen werden weder jene Politiker, die sich in gröbster Manier über das  “Treiben” auf dem Bundesplatz ereiferten, noch die Berner Stadtregierung und all jene Bürgerinnen und Bürger, die ihrem Unmut über das “Gesindel” vor dem Bundeshaus freien Lauf liessen. In die Geschichte eingehen werden jene paar hundert mutigen und kämpferischen Menschen, die nichts kennen ausser ihrer Stimme des Gewissens und der Sorge um eine Zukunft, die nicht nur für sie selber, sondern auch für all jene, welche die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt haben, lebenswert bleiben soll.