Sklavenhandel: eine historisch überwundene Epoche?

 

Nun ist die weltweite Bewegung gegen Symbole und Statuen früherer Rassisten und Sklavenhändler auch in der Schweiz angekommen. Allein in Zürich, so Stadtpräsidentin Corine Mauch, sollen 80 Denkmäler von Personen, die möglicherweise in den Sklavenhandel verstrickt waren, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Das ist ja alles gut und recht, wird aber kein einziges der begangenen Verbrechen wieder gut machen können. Viel wichtiger, als Statuen früherer Sklavenhändler aus der Öffentlichkeit zu verbannen, wäre es, uns zu vergegenwärtigen, dass ein grosser Teil des historischen Geschäfts mit Sklavenarbeit bis in die heutige Zeit fortgedauert hat. Man nennt sie zwar nicht mehr Sklaven oder Leibeigene, aber wo liegt der Unterschied zwischen einem “richtigen” Sklaven des 18. Jahrhunderts und der Arbeiterin in einer Textilfabrik irgendwo in Bangladesh, die gezwungen ist, 12 bis 16 Stunden pro Tag zu arbeiten, fast ohne Pausen, unter permanentem Zeitdruck, stets unter den Blicken eines gnadenlosen Aufsehers, der auch schon mal zu physischer Gewalt greift, wenn die Arbeiterin, die er gerade im Auge hat, nicht genug schnell und sorgfältig arbeitet, diese Arbeiterin, die trotz dieser unmenschlichen Anstrengungen, die sie Tag für Tag vollbringen muss, trotzdem so wenig verdient, dass sie davon fast nicht leben kann. Wir könnten jetzt auch von all jenen Kindern in afrikanischen Minen und Bergwerken sprechen, die schon im frühesten Alter so schwer arbeiten müssen, dass viele von ihnen keine dreissig Jahre alt werden. Wir könnten von den Arbeiterinnen und Arbeitern auf Baumwollplantagen, auf Gemüsefeldern und in Fleischfabriken sprechen, von philippinischen Hausmädchen, die jeden Abend, bevor sie todmüde ins Bett fallen, von ihrer Hausherrin zum Dank für all die geleistete Arbeit blutig geschlagen werden, von rumänischen Prostituierten in europäischen Bordellen, die Nacht für Nacht unsäglicher Gewalt ausgeliefert sind, bloss um sich und ihren Kindern das nackte Überleben zu sichern. Noch einmal: Wo liegt der Unterschied zwischen einem Sklaven, einer Sklavin früherer Zeiten und jener unermesslichen Zahl heute lebender Arbeiterinnen und Arbeiter, die Tag für Tag unmenschliche Leistungen vollbringen und dennoch kaum davon leben können? Eigentlich ist ja nur das Wort selber der Unterschied. Aber weil wir uns in der Illusion wiegen wollen, der Sklavenhandel sei eine historisch überwundene Epoche, sträuben wir uns dagegen, heutige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen als Sklavinnen und Sklaven zu bezeichnen. Und es ist ja nicht nur das. Den früheren Sklavenhandel und seine Verstrickungen mit historischen nordamerikanischen und europäischen Politikern und Geschäftsleuten – auch daran hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert. Unzählige multinationale Konzerne erzielen auch heute noch ihre Profite aus nichts anderem als aus der Differenz zwischen den Hungerlöhnen auf den Plantagen, in den Bergwerken und Fabriken und den Preisen, welche gutbetuchte Konsumenten und Konsumenten für die dargebotenen Produkte dann bezahlen. Und abertausende Aktionäre und Aktionärinnen beteiligen sich an diesem Weltgeschäft, an dessen oberstem Ende der US-amerikanische Unternehmer und Investor Jeff Bezos mit einem Vermögen von 179 Milliarden Dollar steht und an dessen unterstem Ende das Zimmermädchen in einem griechischen Luxushotel, das soeben vor Erschöpfung gestorben ist. Nein, die Zeit des Sklavenhandels ist nicht vorbei. Nicht die Verhältnisse haben sich geändert, nur die Worte und die Art und Weise, mit der wir versuchen, alles schönzureden. Es ist gut, in der Stadt Zürich 80 Denkmäler früherer Rassisten und Sklavenhalter kritisch zu überprüfen. Noch viel wichtiger aber wäre es, ein Wirtschaftssystem zu überprüfen, das immer noch, wie eh und je, auf gnadenloser Ausbeutung und der Anhäufung exorbitanter Gewinne auf Kosten des Lebens und der Gesundheit von Milliarden von Menschen beruht.