Klimabewegung: Zu früh für Zynismus und Resignation

 

“Was am Anfang die Hoffnung war”, sagt der Klimaaktivist Andri Gigerl in einem Interview mit der “NZZ am Sonntag” vom 11. Oktober 2020, “ist jetzt der Zynismus. Wir glaubten, mit den Streiks könnten wir die Welt verändern. Daran glauben nicht mehr viele.” Gross ist die Ernüchterung innerhalb der Klimabewegung: Hatten 2019 noch viele zehntausend Leute an den Demos teilgenommen, sind es jetzt noch ein paar tausend. Eine Folge davon sei, so Gigerl, dass sich die Bewegung immer mehr radikalisiere. “Die Zahl derer, die ein neues, antikapitalistisches System wollen”, so Gigerl, “wird immer grösser. Nur fragen wir uns, wie denn ein solches System aussehen könnte.” Keine Frage, gemessen an der Anfangseuphorie einer radikalen “Weltveränderung”, ist eine gewisse Ernüchterung innerhalb der Klimabewegung nur zu verständlich. Und doch: Es wäre falsch zu behaupten, man hätte überhaupt keine Erfolge erzielt. In der gleichen “NZZ am Sonntag”, in der Andri Gigerl zitiert wird, ist zu lesen, dass das EU-Parlament am vergangenen Mittwoch eine weitere Verschärfung des Klimaschutzes beschlossen hat. Auch habe Chinas Staatschef vor vierzehn Tagen bekanntgegeben, dass sein Land energischere Massnahmen ergreifen werde, um vor 2060 klimaneutral zu werden. Zudem habe fast zeitgleich der Gouverneur von Kalifornien ein Verkaufsverbot für neue Benzin-und Dieselautos ab 2035 erlassen. Und gemäss neuesten Umfragen sprechen sich 52 Prozent der deutschen Bevölkerung für drastische Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aus. Zugegeben, das alles ist längst noch nicht genug und geht viel zu langsam. Und dennoch zeigt es, dass die Klimabewegung sehr wohl ihre Spuren hinterlassen hat und ganz und gar nicht vergeblich war. Und doch ist der Schluss, den ein wachsender Teil der Klimabewegung aus der aktuellen Situation zieht, nämlich dass letztlich alles eine Frage des herrschenden Wirtschaftssystems ist, absolut richtig und entscheidend. Nicht ohne Grund werden an den Demos die Schilder mit dem Slogan “System Change, not Climate Change!” immer zahlreicher. Die Erkenntnis, dass es um weit mehr geht als um die Einsparung von ein paar Tonnen CO2 oder die Förderung der Solarenergie, scheint sich mehr und mehr auszubreiten. Dass wir uns indessen dieses “neue System”, das an die Stelle des kapitalistischen Systems treten würde, noch nicht so richtig vorstellen können, ist durchaus logisch, da wir ja alle in diesem kapitalistischen System aufgewachsen sind und es von klein auf in unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Werte und unser Verhalten aufgesogen haben. Und genau hier liegt die grosse Herausforderung der heutigen Zeit. Dass wir uns auf den Weg machen, dieses neue, nichtkapitalistische System zu entwerfen. Eine Vision, welche die besten Träume und Phantasien beflügeln und uns jenen Mut wieder geben kann, den wir schon fast verloren haben. Denn so gross die Aufgabe zu sein scheint, so naheliegend und einfach ist sie zugleich: Diese Vision ist nichts anderes als der Traum von einer Welt voller Liebe und Gerechtigkeit, ohne Ausbeutung und im Frieden zwischen den Menschen und mit der Natur, jener Traum, den jedes Kind schon von seiner Geburt an in sich trägt. Deshalb sagte auch der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer: “Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit, mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen darf.”