Arbeiten bei Amazon: Die inneren Widersprüche des kapitalistischen Konkurrenzprinzips

 

Mimi Harris, so berichtet die “Wochenzeitung” am 22. Oktober 2020, arbeitet bei Amazon. Während des Shutdowns sei die Rate von 250 Objekten pro Stunde auf 400 erhöht worden. Und am Ende jeder Schicht hätte das Management eine Liste vorgelesen, von den schnellsten Angestellten zu den langsamsten. Sie, so Harris, sei häufig weit unten gewesen und diese öffentliche Demütigung hätte sie mit der Zeit fertiggemacht. Andere hätten bis zum Kollaps gearbeitet, nur um auf der Rangliste möglichst weit oben zu sein… Die Rangliste ist wohl das hinterhältigste Werkzeug in der Hand des Kapitalismus. Das beginnt spätestens im Kindergarten, wenn die Zeichnungen der Kinder miteinander verglichen werden oder wenn die Lehrerin, vielleicht ganz beiläufig und unbewusst, ein Kind, das seine Schuhe noch nicht selber binden kann, darauf hinweist, dass ein anderes dies schon kann. Aber so richtig los geht es dann in der Schule, wenn Prüfungen benotet werden und den Kindern knallhart bewusst wird, an welcher Stelle der Klassenrangliste sie stehen. Aber nicht nur die Kinder der einzelnen Schulklasse werden miteinander verglichen, mittels der internationalen Pisastudie werden sogar die Schulen weltweit miteinander verglichen und jedes Land kann dann schauen, welchen Platz auf der internationalen Rangliste es erreicht hat. Lernen die Kinder in der Schule allenfalls noch zu wenig, Ranglisten zu verinnerlichen, dann tragen sportliche Aktivitäten eifrigst das Ihrige dazu bei: Rennen, Klettern, Schwimmen um die Wette, und immer steht am Schluss eine Rangliste, ein Podest, ein Oben und ein Unten. So sind die Kinder dann bestens vorbereitet auf eine Arbeitswelt, wo jeder Einzelne wiederum bis zum Gehtnichtmehr beurteilt, bewertet und mit seinen Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen verglichen wird: Wie viele Briefe und Pakete pro Stunde verteilt der einzelne Briefbote im Vergleich zu seinen Kollegen, wie viel Umsatz generiert die einzelne Serviceangestellte im Vergleich zu ihren Kolleginnen, wie viele Klienten und Klientinnen pro Tag bewältigt die Angestellte auf dem Sozialamt. Und das geht so immer weiter bis zum nationalen Bruttosozialprodukt, in dem sich die “Wettbewerbsfähigkeit” der gesamten Wirtschaft widerspiegelt und auch dies wiederum im Vergleich zu allen übrigen Ländern der Welt, Ranglisten, über die sich die “Guten” freuen und die bei den “Schlechten” wahrscheinlich ähnliche Gefühle auslösen, wie sie die Amazon-Mitarbeiterin empfindet, wenn sie am Ende eines harten Arbeitstages erfahren muss, dass sie doch wieder nur einen der letzten Plätze auf der Rangliste erreicht hat. Mit der Rangliste werden Menschen, Schulen, Firmen und ganze Länder dazu angestachelt, auf der Rennbahn zukünftigen Erfolgs das Äusserste und Beste zu geben. Und dennoch werden immer nur die Stärksten und Schnellsten diesen Erfolg auch tatsächlich erreichen – es liegt in der Natur der Sache, dass es in jedem beliebigen Unterfangen Sieger und Verlierer geben muss, wie bei einem Skirennen, bei dem alle Beteiligten unmenschliche Leistungen vollbringen, am Ende aber doch nur drei von allen auf dem Podest stehen, weil sie ein paar Tausendstel Sekunden schneller gewesen sind als die anderen. Oder wie bei einer Schulklasse, in der alle Kinder den gleichen IQ haben könnten, es aber dennoch genug winzige Unterschiede zwischen ihnen gäbe, um sie in “gute” und “schlechte” Schülerinnen und Schüler aufzuteilen. Die Rangliste ist eine riesige Lüge. Sie tut so, als wäre es jedem und jeder, die am Start steht, möglich, am Ende des Rennens auf dem Podest zu stehen, sie verschweigt aber die Tatsache, dass es gar nicht anders möglich ist, als dass eben nur ein Einziger oder eine Einzige dies auch tatsächlich schaffen wird, da ja selbst die winzigsten, geradezu vernachlässigbaren Unterschiede zum Anlass genommen werden, die Rangliste zu erstellen. Zwei fatale Auswirkungen hat die Rangliste: Erstens zwingt sie die Menschen, gegeneinander zu arbeiten statt miteinander. Zweitens demütigt sie permanent all jene, die “nur” auf den hinteren Rängen landen. Auch die Amazon-Mitarbeiterin, die auf dem letzten Platz gelandet ist, hat am Ende des Tages eine ungeheure Leistung vollbracht, ihr Rücken und ihre Beine schmerzen kein bisschen weniger als der Rücken und die Beine jener, die auf den vorderen Plätzen rangieren, dennoch bekommt sie am Ende kein Dankeschön, sondern höchstens Vorwürfe oder böse Blicke ihres Vorgesetzten. Genau so wie das Schulkind, das eine schlechte Note bekommen hat, obwohl es sich ebenso viel oder sogar noch mehr Mühe gegen hat als sein Mitschüler, der mit der Bestnote glänzt. Wettbewerbe und Ranglisten, bei denen sich die Sieger ihre Siege dadurch erkaufen, dass sich die Verlierer mit ihren Niederlagen abfinden müssen, verschütten viel zu viel menschliches Potenzial, richten masslosen persönlichen, sozialen wie auch wirtschaftlichen Schaden an und sollten möglichst bald der Vergangenheit angehören…