Plätze auf der Intensivstation nur noch für “verdiente Mitglieder der Gesellschaft”: Gefährliche Gedankenspiele…

 

Simon Hehli setzt sich in der heutigen NZZ vom 30. Oktober 2020 mit der Frage auseinander, welche Coronapatienten im Falle einer Überlastung der Intensivstationen noch einen Platz bekommen sollten und welche nicht. Es könnte, so Hehli, eine Frage des Alters bzw. der zu erwartenden Lebenserwartung sein. Dann aber geht Hehli noch einen Schritt weiter und bringt den Gedanken ins Spiel, dass man allenfalls “verdiente Mitglieder der Gesellschaft oder Privatversicherte” bevorzugen könnte. Freilich sei dies, so Hehli, für die Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW kein Thema. Doch dass man einen solchen Gedanken, und so es bloss ein “Gedankenspiel”, überhaupt an die Öffentlichkeit bringt, muss schon sehr zu denken geben. Was wären denn “verdiente Mitglieder der Gesellschaft”? Gehörte zum Beispiel die Zürcher Stadtpräsidentin in diese Kategorie, nicht aber die Migrosverkäuferin, welche täglich die Gestelle befüllt, wo die Stadtpräsidentin ihre Einkäufe besorgt? Oder gehörte ein Uniprofessor in diese Kategorie, nicht aber der Tramchauffeur, der den Universitätsprofessor täglich pünktlich zur Arbeit fährt? Oder gehörte der CEO eines multinationalen Konzerns in diese Kategorie, nicht aber seine Arbeiterinnen und Arbeiter, ohne deren Einsatz der ganze Konzern augenblicklich in sich zusammenbrechen würde? Und wie steht es mit dem Pflegepersonal, gehört das zu den “verdienten” oder zu den “weniger verdienten” Mitgliedern der Gesellschaft und könnten Pflegende dann in letzter Konsequenz, wenn sie selber krank würden, von all den Pflegeleistungen, die sie für andere erbrachten, am Ende selber ausgeschlossen werden? Von “verdienten” und “weniger verdienten”, “wichtigen” und “unwichtigen” Mitgliedern der Gesellschaft zu sprechen ist ein Hohn gegenüber all jenen, die ganz “unten”, an der Basis, all jene harte, anspruchsvolle, verantwortungsvolle, gefährliche und ermüdende Arbeit leisten, ohne welche die gesamte Gesellschaft keinen Tag lang funktionieren könnte und ohne die es weder eine Stadtpräsidentin gäbe, noch einen Universitätsprofessor und erst recht keinen CEO eines multinationalen Konzerns. Doch das “Gedankenspiel” des NZZ-Journalisten geht ja noch weiter: Man könnte die Privatversicherten gegenüber den Allgemeinversicherten vorziehen. Was nichts anderes heissen würde, als die Reichen gegenüber den Armen zu bevorzugen. Was für ein menschenverachtender Gedanke! Ausgerechnet die, welche schon ein Leben lang auf hunderttausende Annehmlichkeiten verzichten mussten, die für andere selbstverständlich waren, sollen nun, vor dem möglichen Ende ihres Lebens, in der Warteschlange noch einmal auf die hintersten Plätze verwiesen werden. Zum Glück sind das, wie der Autor betont,  alles nur “Gedankenspiele” und weit davon entfernt, in der Bevölkerung oder in politischen Gremien Mehrheiten zu finden. Und doch scheint es mir mehr als fragwürdig, überhaupt mit solchen Gedanken zu spielen und damit Diskussion in Gang zu setzen, die dann vielleicht im schlimmsten Falle doch noch eines Tages Wirklichkeit werden könnten…