Kunstturnerinnen und Sportgymnastinnen: Nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs…

 

Das “Magazin” des “Tagesanzeigers” vom 31. Oktober 2020 berichtet von den erschütternden Zuständen bei den Trainingsmethoden für Kunstturnen und Rhythmische Gymnastik in Magglingen, wo schon elfjährige Mädchen bis an ihre Schmerzgrenzen und weit darüber hinaus gequält werden und viele von ihnen buchstäblich daran körperlich und psychisch zerbrechen. Wenn man die Erfahrungsberichte der Mädchen und jungen Frauen liest, voller Verzweiflung und Erniedrigung bis hin zu Suizidgedanken, dann kann man es kaum fassen, dass so etwas, was man früher nur von Rumänien oder Bulgarien kannte, mitten in einem so demokratischen und aufgeklärten Land wie der Schweiz auch heute noch möglich ist. Doch im Grunde genommen ist das nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. Dieser Eisberg, das ist jenes Konkurrenzprinzip, das sämtliche Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft in mehr oder weniger drastischem Ausmass durchzieht: Wenn die Mädchen von Magglingen für die nächsten Olympischen Spiele trainieren, dann stehen sie dabei in direkter Konkurrenz zu den Mädchen in Deutschland, in den USA oder in Russland. Und je mehr und härter die Mädchen in allen anderen Ländern trainieren, umso mehr müssen auch die Mädchen hierzulande trainieren, wenn sie auch nur annähernd eine Chance haben wollen, unter den zehn besten Ländern zu rangieren. Es ist eine Art Krieg. Jeder Peitschenhieb, mit dem am einen Ort eine höhere Leistung herbeigeprügelt wird, hat unzählige weitere Peitschenhiebe an unzähligen anderen Orten zur Folge, um eine noch höhere Leistung hervorzubringen. Es ist ja kein Zufall, sondern eine logische Folge davon, dass die Übungen, welche von Jahr zu Jahr gezeigt werden, immer extremer und gefährlicher werden, denn nur so kann man sich an der Spitze noch einigermassen behaupten. Das Gleiche bei den Skirennfahrern und Skirennfahrerinnen, die von Jahr zu Jahr in immer schnellerem Tempo, mit grösserem Risiko und grösserer Unfallgefahr die Pisten hinuntersausen, nur um ein paar Tausendstel Sekunden schneller zu sein als die Konkurrenz. Das Ganze beginnt schon in der Schule, spätestens dann, wenn Prüfungen benotet werden: Jedes Kind steht in Konkurrenz zu seinen Mitschülern und Mitschülerinnen und je eifriger sich das einzelne Kind auf die Prüfung vorbereitet, umso mehr zwingt es alle anderen dazu, eine noch grössere Leistung zu vollbringen, um möglichst mit den anderen mithalten zu können. Und erst recht in der Arbeitswelt, wo jede Firma in einem permanenten Konkurrenzkampf steht zu allen anderen Firmen: Wer schneller und billiger produziert, zwingt alle anderen Firmen dazu, noch schneller und noch billiger zu produzieren, um den Anschluss nicht zu verpassen und nicht auf der Strecke zu bleiben. Nun könnte man einwenden, dies alles sei ja gar nicht so schlimm, sondern führe dazu, dass jeder stets das Beste gibt und sich dadurch die Qualität von allem laufend verbessere: immer spektakulärere Darbietungen im Kunstturnen, immer schnellere Skirennfahrer, immer gescheitere Schüler und Schülerinnen, immer billigere und qualitativ bessere Produkte. Das Problem ist nur: Jeder Erfolg, der in diesem Konkurrenzkampf errungen wird, muss, wie das Beispiel der Kunstturnerinnen am drastischsten zeigt, mit immer grösserem Aufwand, grösseren Opfern und grösserem Leiden erkauft werden, denn die Spirale der Konkurrenz dreht sich naturgemäss immer schneller. Und am Ende stehen dann ein paar wenige “Sieger” im Rampenlicht und viele andere, die sich ebenso angestrengt und mit ihrem Einsatz den Konkurrenzkampf überhaupt erst möglich gemacht haben, gehen leer aus. Doch was wäre die Alternative zum Konkurrenzprinzip? Ein System der Kooperation, bei der jeder auf seinem Gebiet das Beste zum Gelingen des Ganzen beiträgt, ohne stets mit anderen verglichen und gegen andere ausgespielt zu werden. Ein System, in dem die Menschenwürde im Mittelpunkt stehen würde und Zustände, wie sie die Mädchen von Magglingen heute noch erleiden müssen, hoffentlich für immer der Vergangenheit angehören würden..