Donald Trump, Joe Biden und die Sehnsucht aller Menschen nach einem “guten Leben”

 

Jörg Wimalasena, der in den letzten Jahren 38 US-Gliedstaaten bereiste und dort die unterschiedlichsten Menschen traf, schreibt in der heutigen “NZZ am Sonntag” vom 1. November 2020: “Entgegen der oft gehörten Meinung, die USA seien ein zutiefst gespaltenes Land, habe ich im Alltag nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft besonders gespalten wäre. So unterschiedlich denken die Leute nicht. Jeder möchte im Grunde krankenversichert sein, möchte, dass seine Kinder gute Schulen besuchen und in einer sicheren Nachbarschaft leben.” Ja, die innerste Sehnsucht nach einem guten Leben in Sicherheit, Frieden, körperlicher und seelischer Gesundheit, Gerechtigkeit und Frieden, diese Sehnsucht ist wohl allen Menschen gemein, nicht nur in den USA, auch in allen anderen Ländern der Welt. Wenn die heutige US-Gesellschaft im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen vom 3. November dennoch bis zu einem gewissen Grad gespalten ist, dann nur insofern, als ein Teil der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass ihre Sehnsucht nach dem guten Leben eher durch eine Wahl von Donald Trump in Erfüllung gehen könnte, während der andere Teil der Meinung ist, dass sie eher durch eine Wahl von Joe Biden in Erfüllung gehen könnte. Das Bittere ist, dass sich weder die Sehnsucht der einen noch die Sehnsucht der anderen erfüllen wird. Das Problem liegt nämlich nicht in der Wahl zwischen Trump und Biden. Das Problem liegt darin, dass die USA ganz unabhängig davon, ob nun Trump oder Biden zum Präsidenten gewählt wird, ein zutiefst kapitalistisches Land ist und bleiben wird. Ein Land, das die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht. Ein Land, in dem sich die einen mit zwei oder drei Jobs pro Tag zu Tode schuften müssen, damit die anderen ihre Traumvillen mit Swimmingpool und exotischen Parkanlagen bauen und auf Kreuzfahrtreisen oder per Flugzeug in die Karibik verreisen können. Ein Land, in dem der schulische Erfolg als Schlüssel zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg immer mehr davon abhängt, wie viel die Eltern dafür bezahlen können und in welchem Quartier sie leben. Ein Land, das nach wie vor in der Illusion eines immerwährenden Wirtschaftswachstums gefangen ist und dadurch mehr als die meisten anderen Länder für weltweite Umweltzerstörung und die Klimaerwärmung verantwortlich ist. Ein Land, in dem soziale Verelendung, Überschuldung, psychische Leiden und Drogenmissbrauch immer drastischere Formen annehmen. Ein Land, in dem als unmittelbare Folge einer knallharten Klassengesellschaft und des Kampfs um Privilegien auch die Gewalt zwischen den sozialen und ethnischen Gruppen allgegenwärtig ist. Ob Trump oder Biden: Sie sind, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, nichts anderes als zwei Köpfe des gleichen kapitalistischen Ungeheuers. Und die Sehnsucht nach dem “guten Leben”, wird, wie schon zu Obamas Zeiten, einmal mehr bitter enttäuscht werden. Der “Wahlkampf” zwischen den beiden “Kontrahenten” lenkt einmal mehr die öffentliche Aufmerksamkeit von der tatsächlichen Schicksalsfrage ab, von der Frage nämlich, ob es nicht höchste Zeit wäre, das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem durch eine von Grund auf neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu ersetzen, welche das “gute Leben” nicht nur für eine privilegierte Minderheit, sondern für sämtliche Bürgerinnen und Bürger dieses Landes verwirklichen würde. An der Sehnsucht der Menschen jedenfalls würde es nicht fehlen…