Es gibt keine echte Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit

 

Bürgerliche Politiker und Politikerinnen singen gerne das Hohelied der “individuellen Freiheit” als grösster Errungenschaft westlicher Demokratien – im Gegensatz zu Diktaturen oder “sozialistischen” Staatsformen. Doch Freiheit im Kapitalismus ist ein trügerischer Begriff… 

Kann der Absolvent eines Gymnasiums aus hundert verschiedenen zukünftigen Ausbildungswegen frei wählen, bleibt dem Jugendlichen aus der “Unterschicht”, der die Schule frühzeitig abbrechen musste, gerade noch die Wahl zwischen einem Handlangerjob auf dem Bau und einem Job bei der Kehrichtabfuhr. Kann die Akademikerfamilie für ihre nächste Ferienreise frei zwischen Bali, Mauritius und den Malediven wählen, so muss die alleinerziehende Verkäuferin schon froh sein, wenn sie sich überhaupt ein Zugbillett nach Zürich oder Bern leisten kann, um dort ihre kranke Mutter zu besuchen. Bietet sich dem Ärzteehepaar als zukünftige Wohnstätte eine Vielzahl an Luxuswohnungen und Villen jeglicher Preiseklasse in der Agglomeration an, so muss die vierköpfige Familie eines Kochs schon dankbar sein, wenn sie sich mitten in der Stadt an einer vielbefahrenen Strasse in eine winzige Dreizimmerwohnung hineinzwängen darf. Kann sich der Geschäftsführer einer Computerfirma am Sonntagmorgen überlegen, ob er den Tag lieber auf seinem Segelboot auf dem Bodensee oder doch lieber auf dem Golfplatz verbringen möchte, wartet das fünfjährige Kind der Arbeiterfamilie immer noch sehnsüchtig auf das schon lange versprochene Dreirad. Können der Gymnasiallehrer und seine Frau, die Rechtsanwältin, mit ihren Kindern im Restaurant aus über 30 verschiedenen Menus das Gewünschte auswählen, samt Vorspeise und Dessert, muss die Putzfrau, die unlängst ihre Stelle verloren hat, ihren Kindern mit aller Mühe beibringen, dass es auch heute wieder nur noch knapp für gerade mal ein Stück Brot oder einen Teller Spaghetti gereicht hat…

Die Freiheit der einen ist eben im Kapitalismus nicht die Freiheit der anderen. Was wir “Freiheit” nennen, sind in Tat und Wahrheit bloss Privilegien, welche die einen nur deshalb geniessen können, weil die anderen davon ausgeschlossen sind. Echte Freiheit als demokratische Errungenschaft wäre etwas von Grund auf anderes. Echte Freiheit wäre stets nicht nur meine eigene, sondern zugleich immer auch die Freiheit aller anderen. Echte Freiheit ist nur möglich auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit. Erst wenn alles, von den Gütern des täglichen Bedarfs bis zur Entlohnung für geleistete Arbeit, unter alle gerecht verteilt ist, erst dann können wir tatsächlich von Freiheit sprechen. Die Behauptung der bürgerlichen Politiker und Politikerinnen, Freiheit sei das Produkt der marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Gesellschaft, geht zurück an den Absender. Wenn wir Freiheit verwirklichen wollen, dann müssen wir zuerst soziale Gerechtigkeit verwirklichen.