Eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger? Die Realität sieht anders aus…

 

Abend für Abend stehen Hunderte von Menschen in Zürich, Basel, Lausanne, Genf, Biel, Bern und anderen Städten Schlange, um einen Teller Suppe, etwas Gemüse und ein paar Stücke Brot zu ergattern. Es sind Menschen, die durch die Coronakrise an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gespült worden sind: Working Poor, alleinerziehende Mütter, Sans-Papiers, Putzfrauen, Prostituierte, Obdachlose, Junkies, Arbeitslose, Serviceangestellte, Hilfsarbeiterinnen. Über die allererste dieser Hilfsaktionen, Frühling 2020 in Genf, wurde in den Medien noch ausführlich berichtet. Seither hört und sieht man kaum mehr etwas davon, obwohl die Schlangen der Hilfesuchenden in der Zwischenzeit immer zahlreicher und immer länger geworden sind. Offensichtlich hat man sich an das Elend schon so sehr gewöhnt, dass ihm keine besondere öffentliche Erwähnung mehr zuteil wird. Doch man stelle sich einmal vor, nicht Prostituierte, alleinerziehende Mütter und Putzfrauen würden nachts in der Kälte um einen Teller Suppe Schlange stehen, sondern Universitätsdozenten, Chefärztinnen, Bankdirektoren und Rechtsanwältinnen. Was für ein Aufschrei da wohl durchs ganze Land gehen würde! Offensichtlich scheinen in unserem Lande nicht alle Menschen gleich “wichtig” zu sein. Dass das öffentliche Ansehen und Gewicht einer Person sehr stark von ihrer sozialen Stellung abhängt, zeigte sich auf erschreckende Weise auch in einem Artikel der NZZ am 30. Oktober 2020. In diesem Artikel wurde nämlich die Frage aufgeworfen, ob man, wenn die Intensivplätze in den Spitälern nicht mehr für alle Coronakranken ausreichen würden, nicht “verdienten Mitgliedern der Gesellschaft” den Vorrang geben müsste. Das wären dann wahrscheinlich Stadtpräsidentinnen, Stararchitekten und Opernhausdirektoren, während eine Putzfrau, ein Gärtner oder eine Verkäuferin auf der Strecke bleiben würden. Welche Menschenverachtung! Während die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung in der breiten Öffentlichkeit immer wieder intensiv diskutiert wird und sich auf dem besten Weg befindet, nach und nach überwunden zu werden, sitzt offensichtlich eine andere Form von Diskriminierung noch immer tief in unseren Köpfen fest und ist weit davon entfernt, öffentlich thematisiert geschweige denn aktiv bekämpft zu werden: die Diskriminierung aufgrund der beruflichen Tätigkeit, der schulischen Bildung und der sozialen Stellung. Noch immer schaut man zu einem Arzt “hinauf”, während man auf eine Verkäuferin “hinunterschaut”. Noch immer spricht man von “gebildeten” und “ungebildeten” Menschen und meint damit beinahe ausschliesslich die Anzahl besuchter Schuljahre, nicht aber das Ausmass an Lebenserfahrung und praktischer Intelligenz. Noch immer werden ausgerechnet jene Menschen, welche die anstrengendsten, eintönigsten und gefährlichsten beruflichen Tätigkeiten ausüben, mit der geringsten gesellschaftlichen Wertschätzung und den geringsten Löhnen abgespeist, und dies, obwohl die ganze Gesellschaft, würde niemand diese Arbeiten verrichten, augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Noch immer wird Menschen, die es auf keinen grünen Zweig bringen, den Job verlieren oder von der Sozialhilfe abhängig sind, vorgeworfen, sie seien an ihrer Lage selber Schuld und hätten sich eben bloss mehr anstrengen müssen. Wie heisst es so schön in der Schweizerischen Bundesverfassung: “Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache und der sozialen Stellung.” Sind Verfassungen nicht dazu da, im Laufe der Zeit auch tatsächlich umgesetzt zu werden? Wie lange müssen die Schlangen vor den Suppenküchen noch werden, bis sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt haben wird, dass es in einer solidarischen Gesellschaft nicht “wichtige” und “unwichtige” Menschen gibt, sondern alle genau gleich wichtig und wertvoll sind?